Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Notrufsäulen, noch Abfahrten, noch einen Seitenstreifen zum Halten. Sie würde in der Falle sitzen.
Sollte sie anhalten und tanken?
Es hätte zu lange gedauert. In zweieinhalb Stunden startete Jonathans Flugzeug. Wenn er am Flughafen ankam, bevor sie ihn eingeholt hätte, würde er unverzüglich an Bord gehen.
Mit feuchten Handflächen umklammerte sie das Steuerrad. Das Benzin reichte gerade noch für die Rückfahrt zu Harmony Biotec. Von hier ab gab es kein Zurück mehr.
Sie holte tief Luft, gab Gas und beschleunigte.
Als sie endlich Rücklichter vor sich sah, flehte sie stumm: Bitte, laß es Jonathan sein. Aber beim Näherkommen erkannte sie einen mit Palmen beladenen roten Pickup.
Sie überholte und versuchte schneller zu fahren. Aber die Straße war glatt. Die ersten Regenfälle in Kalifornien spülten jedesmal das Öl an die Oberfläche, das aus Millionen von Autos gesickert war. Es mußte erst noch viel mehr regnen, bevor es wieder weggeschwemmt sein würde.
Als das Heck der Corvette leicht zu tänzeln anfing, packte sie das Steuer noch fester und starrte angestrengt hinaus in den Sturm.
Wieder Rücklichter.
Ihre Scheinwerfer überfluteten den Wagen vor ihr. Aber es war ein mit vier Personen besetzter weißer Honda.
Die Stadt Banning näherte sich und zog vorüber. Jetzt fuhr sie durch die Badlands. Die Benzinuhr zeigte auf »Leer«.
Wieder Rücklichter.
»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte!«
Aber es war ein Ferrari, und es waren zwei Köpfe zu sehen.
Charlotte war so damit beschäftigt, nach vorn zu blicken, daß sie die herankommenden Lichter hinter sich zunächst gar nicht bemerkte. Es waren nicht nur Scheinwerfer, sondern auch rote Warnlichter.
Ein Streifenwagen.
»O Gott, nein! Haltet mich jetzt nicht an!«
Der Polizist betätigte die Lichthupe, und Charlotte durchzuckte der plötzliche, wahnsinnige Wunsch, noch mehr zu beschleunigen und einfach abzuhauen. Statt dessen nahm sie den Fuß vom Gaspedal und machte sich aufs Schlimmste gefaßt.
Zu ihrer Verwunderung überholte der Polizeiwagen sie jedoch nur und brauste weiter. Offenbar genügte es dem Polizisten, daß er sie ermahnt hatte, langsamer zu fahren.
Charlotte atmete tief durch, um sich zu beruhigen, griff das Steuerrad wieder fester und bemühte sich mit Gewalt um Zurückhaltung, bis der Streifenwagen am Horizont verschwunden war. Dann trat sie auf das Gaspedal und erhöhte die Geschwindigkeit.
Weitere Abfahrten flogen vorbei, neue Gelegenheiten zum Anhalten und Tanken. Aber sie mußte weiter, mußte Jonathan einholen …
Endlich tauchten vor ihr wieder Rücklichter auf. Anscheinend ein ziemlich großer Wagen, der nicht allzu schnell fuhr. Mit einem Auge auf der Benzinuhr, kam Charlotte näher. Der Strahl ihrer Scheinwerfer erfaßte die hintere Stoßstange und einen Aufkleber mit dem Text Alpha Rents-Leihwagen.
Jonathan!
Sie betätigte die Lichthupe.
Er beschleunigte.
»Nein!« Sie gab ebenfalls Gas.
Sie wechselte die Spur und versuchte neben ihn zu kommen. Sie hupte aus Leibeskräften. Das Auto fing an zu rutschen: Aquaplaning. »Jonathan!« schrie sie, versuchte mit ihm gleichzuziehen, hupte, blinkte.
Sie sah sein angespanntes Profil und merkte, daß er völlig in Gedanken versunken war. Er hatte die Fenster geschlossen und den Blick auf die Straße geheftet.
Wieder trat sie das Gaspedal durch und beschleunigte. Die Hinterreifen begannen durchzudrehen. Ihr wurde übel. An der Benzinuhr brannte das rote Lämpchen. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung schob sich die Corvette nach vorn und ließ seinen Wagen um ein paar Zoll hinter sich. Charlotte stemmte sich in den Sitz und steuerte scharf nach rechts, um Jonathan den Weg abzuschneiden. Sie sah seine Scheinwerfer nach unten gehen, als er voll abbremste.
Charlotte flog von der Landstraße. Sie lenkte den Wagen noch in ein weiches Bankett. Der Motor ging aus. Der Tank war endgültig leer.
Sie glaubte sich übergeben zu müssen. Sie zitterte so sehr, daß ihre Zähne klapperten. Als sie merkte, daß sie ohnmächtig wurde, legte sie den Kopf auf das Steuerrad.
»He! Sie da drin!« schrie Jonathan, hämmerte gegen das Fenster und versuchte, ins Innere des Wagens zu blicken. »Sind Sie verletzt?«
Er riß die Tür auf. »Mein Gott! Charlotte!«
Sie streckte ihm die Arme entgegen, und er zog den bebenden Körper an sich.
Sie standen im strömenden Regen an der Straße, und er hielt ihr Gesicht in beiden Händen. »Um Himmels willen, Charlotte. Du hättest uns
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