es auf, hob nur ganz leicht den Deckel an, so daß eine Visitenkarte herausglitt, die sanft wie eine Feder auf den Teppich niederschwebte. Diese Karte hatte sie vor neun Jahren ganz unerwartet mit der Post bekommen. Sie hatte sie in das Buch gelegt und mit ihm eingeschlossen. Sie trug das cremefarbene Stück Karton zum Schreibtisch und hielt es unter die Lampe.
Jonathan Sutherland
Berater für technische Sicherheit
London: 71–683–4204
Edinburgh: 31–667–9663
E-Mail:
[email protected] Die Karte hatte damals eine so schmerzhafte Wunde aufgerissen, daß Charlotte sie sofort weggelegt und sich gezwungen hatte, nicht mehr darüber nachzudenken. Es hatte Jahre gedauert, bis sie endlich so weit war, daß sie nicht täglich an ihn denken mußte, bis sie einen Punkt des Annehmens erreicht hatte, so wie ihre Großmutter es ihr vermutlich auch geraten hätte. Vor langer Zeit hatte sie feierlich geschworen, Jonathan nie mehr in ihr Leben zurückzuholen. Vor neun Jahren hatte sie diesen Schwur erneuert.
Doch nun brauchte sie ihn. Es gab nur ihn, dem sie vertrauen konnte, niemanden sonst, der sich in solchen Dingen so gut auskannte, wie er.
Sie sah wieder auf den Bildschirm des Computers. »Du hast zwölf Stunden Zeit.« Aber Jonathan war 8000 Meilen weit entfernt. Er konnte niemals rechtzeitig hier sein. Vielleicht sollte sie telefonisch seinen Rat einholen, vielleicht konnte er ihr sagen, wie sie dem anonymen E-Mailer auf die Spur kommen konnte, oder vielleicht würde er es sogar dort von seinem eigenen Computer für sie erledigen können.
Während sie nach dem Hörer griff, überschlug sie den Zeitunterschied. In London waren es zwei Uhr morgens. Ihr fiel auf, daß die Karte keine Privatnummer angab. Vielleicht wurden Anrufe automatisch weitergeleitet.
Mit jagendem Puls begann sie zu wählen. Jonathan, nach all diesen Jahren … Würde sie den Schmerz ertragen können? Würde er überhaupt mit ihr reden wollen?
Sie lauschte auf das Läuten des Telefons am anderen Ende – dieses drängende Doppelklingeln, eine britische Eigenart. Sie versuchte sich Jonathan vorzustellen. Er würde neben seiner Frau liegen und schlafen.
Als es leise an der Tür klopfte, dachte sie: Nicht jetzt, Desmond. Gib mir ein paar Augenblicke Zeit, damit ich mich darauf vorbereiten kann, mit Jonathan wieder zu sprechen.
Aber er war hartnäckig. »Komm rein, Des«, sagte sie schließlich.
Die Tür ging auf, und da stand er, im feuchten Regenmantel, auf den Lippen das vertraute Lächeln.
»Hallo, Liebes«, sagte Jonathan.
5
Auf die Woge von Gefühlen, die sie überschwemmte, als sie ihn dort stehen sah, wie aus ihren Gedanken entsprungen, war Charlotte nicht vorbereitet.
Die Liebe, die sie einst für diesen Mann empfunden hatte – eine tiefe, verzweifelte Liebe, nun schon so lange begraben –, kehrte machtvoll zurück, gewaltig wie ein Monsun in Singapur.
»Hallo, Liebes«, hatte er gesagt, und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Er nannte sie »Liebes«. Aber dann fiel ihr ein, daß die Ladeninhaber in London, wenn sie einem das Wechselgeld zurückgaben, auch immer sagten: »Hier, Liebes.«
Sie mußte mit aller Kraft an sich halten, um sich nicht in seine Arme zu werfen. Beim Anblick des vertrauten Lächelns fand sie sich jäh in die Zeit zurückversetzt, als sein Mund den ihren zum ersten Mal berührt hatte. Sie und Jonathan hatten in seinem Geheimversteck gesessen, und er hatte geweint. Als sie ihn mit den Worten »Mach dir keine Sorgen, Johnny« getröstet und ihn ungeschickt umarmt hatte, hatten ihre Lippen sich irgendwie getroffen. In dieser Sekunde hatte die fünfzehnjährige Charlotte zwei schmale hohe Kerzen vor sich gesehen, wie Fackeln, die sich zueinander neigten, bis sie zu einer einzigen Flamme verschmolzen, heiß und verzehrend.
Nach diesem jugendlichen Kuß voller Leidenschaft hatten sie und Jonathan sich atemlos voneinander gelöst, weil sie beide die Grenze erkannt hatten, an der sie standen, und sich davor fürchteten. Aber Charlotte hatte das Gefühl gehabt, nur noch die Hälfte dessen zu sein, was sie Augenblicke zuvor noch gewesen war. Es war, als hätte erst Johnny sie zu einem Ganzen gemacht. Ohne ihn würde sie sich nie wieder als Ganzes fühlen.
Und auch Johnny hatte es so empfunden. Er hatte es nicht gesagt, weil Johnny nie fähig gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Aber seine Augen sagten alles. Sie wußten es beide. Charlotte und Jonathan waren verwandte Seelen, und in ihrer Welt konnte