Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
der Stunde der Not helfen. Und nun, wenn du mich entschuldigst, muß ich mich noch um etliches kümmern. Wenn du mich brauchst, bin ich in meinem Büro, Charlotte«, sagte er liebevoll.
Sie sah ihm nach, wie er den Empfangsbereich durchquerte, ein kleiner, alter Herr, dem jeder respektvoll Platz machte. Dann schüttelte sie vorsichtig das Kästchen. Zu ihrer Überraschung schien etwas darin zu sein.
Sie kehrte dem Chaos, in dem Desmond versuchte, erregte Aufseher und Abteilungsleiter zu beruhigen, Valerius Knight emsig in seinen Laptop tippte und Sekretärinnen mit ihren überlasteten Telefonen kämpften, den Rücken und ging den Korridor hinunter zu ihren Büroräumen.
Die Stille, die sie sogleich umgab, als sie die doppelten Eichentüren öffnete und hinter sich schloß, wirkte wie ein Wundermittel. Sie sah auf die Statuen zu beiden Seiten der Tür: Äskulap, der griechische Gott westlicher Heilkunst, auf dessen Sockel geschrieben stand: »Vor allem nicht schaden.« Hippokrates. Und Kwan Yin, die chinesische Göttin der Barmherzigkeit: »Grobe Hände schaffen grobe Heilmittel.« Meiling. Charlotte richtete im Geist ein kurzes Gebet an die beiden alten Gottheiten und flehte um Weisung und Kraft.
Abgesehen von Kwan Yin hatte die Ausstattung von Charlottes in Grau und Burgunderrot gehaltenem Büro nichts Asiatisches. Ganz und gar amerikanische Unternehmenskultur, ein Eindruck, den Charlotte absichtlich förderte. Die meisten Menschen, die ihr zum ersten Mal begegneten, wußten nicht, daß sie Viertelchinesin und ihr Name Lee nicht amerikanisch war, sondern seine Wurzeln in Südchina hatte. Es war auch Charlotte gewesen, die, als sie nach dem Tod ihrer Großmutter vor sechs Monaten die Stellung der Vorstandsvorsitzenden geerbt hatte, das Gewicht des Unternehmens von der Herstellung chinesischer Naturheilmittel auf die Erforschung und Entwicklung westlicher Pharmazeutika verlegt hatte. Auch die Namensänderung von »Haus der Harmonie« in »Harmony Biotec« stammte von ihr.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Alle zehn Leitungen waren belegt, zeigte das Display an. Sie würde die Anrufe von ihrer Sekretärin entgegennehmen lassen. Im Augenblick hatte sie Dringenderes zu tun.
Zuerst jedoch ging sie hinüber zur Getränkebar, wobei sie sich zu langsamen, bedächtigen Bewegungen zwang. Trotz der zwei Tabletten von vorhin zitterten ihre Nerven von dem Unfall mit der Garagentür noch nach. Und wenn ich in der Corvette gesessen hätte? Sie goß Wasser in den Elektrokocher und nahm eine besondere Tasse und Untertasse heraus, geformt aus feinstem Knochenporzellan und verziert mit Glückssymbolen. In die Tasse legte sie ein kleines, mit Kamillenblüten gefülltes Stoffbeutelchen und wartete darauf, daß das Wasser kochte. Inzwischen atmete sie langsam ein und aus und machte mentale Übungen, um ihr jagendes Herz unter Kontrolle zu bringen und ihre Nerven zu beruhigen.
Während ihr Atem langsamer ging, legte sie die Hand auf die Halskette, die genau unter ihren Schlüsselbeinen lag. Es war eine silberne Kette mit Amethystperlen, an der ein Anhänger aus der Shang-Dynastie befestigt war. Er bestand aus Silber und einem goldenen Bernsteintropfen und war eigentlich ein Medaillon. Vor vierundzwanzig Jahren hatte Charlotte etwas hineingelegt und mit den Tränen einer Fünfzehnjährigen versiegelt. Seitdem hatte sie es nie wieder geöffnet.
Als das Teewasser kochte, goß sie es in die Tasse. Sofort besänftigte das Aroma des aufsteigenden Dampfes ihr Gemüt und weckte eine Erinnerung an längst vergangene Tage – an ihre Großmutter, die eine ganze Serie unterschiedlicher Teekannen besessen hatte, jede für einen anderen Zweck: »Für den Tee, der Mißverständnisse verhindert«, »Für den Tee, der Glück bringt«, »Für den Tee, der das chi verbessert«. Wie oft hatte ihre Großmutter mit Charlotte geschimpft, weil sie ihr gesamtes Teewasser immer im selben Kessel kochte und dann Tee in einem Beutel an einer Schnur hineintauchte. Ganz großes Unglück. Als dann Instant-Tee in den Regalen der Supermärkte auftauchte, hatte Charlottes Großmutter erklärt: »Absolut wertlos.«
Ein jäher scharfer Schmerz durchzuckte Charlotte. Sie sah auf die Kwan-Yin-Statue und versuchte sich zu erinnern, was ihre Großmutter ihr einmal über eine andere Figur der Himmelskönigin erzählt hatte. Aber ihr fiel nur noch ein, daß es eine seltsame, exotische Geschichte gewesen war, in der die Göttin aus weiter Ferne über das Meer
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