Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Ich fuhr mit ihm im Rettungswagen. »Warum?« fragte ich. »Warum hast du das getan?«
Er nahm meine Hand in seine, lächelte sanft und antwortete: »Weil mein Bild fertig ist.«
Er starb in derselben Nacht im Krankenhaus, und die Ärzte bestätigten, daß das Starker-Mann-Tonikum den Tod verursacht hatte. Danach meldeten sich andere Leute und berichteten von ihren eigenen Erkrankungen oder von Sterbefällen nach dem Gebrauch von Roter-Drache-Mitteln. Arbeiterinnen der Roter-Drache-Fabrik gaben der Polizei anonyme Tips, und eine darauf folgende Untersuchung enthüllte, daß die Produktionsberichte tatsächlich gefälscht gewesen waren. Als die Polizei mehrere Mitarbeiter des Unternehmens nach Betty Chan fragte, deren armer Körper immer noch im Leichenschauhaus lag, bezeugten sie, daß sie die Spionin des Roten Drachen gewesen war.
Eine weitere Untersuchung, vom Finanzamt eingeleitet, förderte gefälschte Geschäftsbücher und Beweise für Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Verbindungen zur chinesischen Mafia zutage. Die Fabrik wurde geschlossen, der Drache ohne Möglichkeit, Kaution zu stellen, in Untersuchungshaft geschickt, bis die Ermittlungen abgeschlossen sein würden. Doch noch bevor es zum Prozeß kam, starb der Drache im Gefängnis, angeblich an einem Herzanfall, obwohl es Gerüchte gab, daß er wegen des großen Gesichtsverlustes Selbstmord begangen habe.
Zu meiner Überraschung litt der Absatz von Vollkommene-Harmonie-Mitteln nicht unter dem Skandal, sondern stieg im Gegenteil an. Der Prozeß hatte soviel öffentliches Interesse erregt, daß auch meine Arzneien dadurch bekannt wurden. Leute, die vorher niemals zu Mei-ling -Balsam und Wonne -Kapseln gegriffen hatten, versuchten sie nun und wurden treue Kunden. Deshalb und um die Zukunft meiner Tochter zu sichern, führte ich, obwohl ich in Trauer war, meinen Plan aus, die Fabrik in Daly City zu kaufen. Mr. Lee hätte es so gewollt.
Ich beauftragte eine Geomantin, das feng shui zu prüfen. Sie fand ein Leck in einem der Rohre – »Ihr Geld wird davontröpfeln« – und eine Tür, die den chi -Fluß blockierte. Wir ließen die Gebäude in Farben streichen, die sie in Einklang mit ihrer Umgebung brachten, hingen Windspiele auf, um gutes chi einzufangen und wieder auszustrahlen, und als ich entdeckte, daß die Hausnummer 626 lautete – was in der Quersumme vierzehn ergab und somit eine äußerst ungünstige Zahl war, die soviel wie »sicherer Tod« bedeutete –, änderte ich sie in 888, um Glück und Wohlstand anzuziehen.
Am Tag der Neueröffnung, einem von einer Wahrsagerin gewählten Glückstag, mieteten wir Löwentänzer, um die Götter günstig zu stimmen. Dann stellten sich alle zu einem Gruppenfoto auf, auch Gideon und Olivia, die ihren Sohn Adrian und die kleine Margo, die bei ihnen zu Besuch war, mitgebracht hatten.
Mit Hilfe von Mr. Winterborn sorgte ich dafür, daß der achtzehnjährige Sohn des Drachen, Woodrow Sung, von mir anonym unterstützt wurde, denn er war inzwischen Vollwaise, und ich fand nicht, daß er für die Sünden seines Vaters büßen sollte.
Es dauerte Monate, bis ich mich überwinden konnte, Mr. Lees Atelier zu betreten. Sein letztes Gemälde hatte ich seit dem Tag, an dem er es begonnen hatte, nicht mehr gesehen. Ich wußte nicht, was er in all diesen stillen Nächten während des Prozesses geschaffen hatte. Aber ich mußte mich dem Bild stellen, um herauszufinden, ob es Antwort darauf gab, warum Mr. Lee sich umgebracht hatte.
Das Bild stand noch so, wie er es verlassen hatte. Ich merkte sofort, daß es nicht die üblichen Pandabären, Pferde oder Tempelhunde darstellte. Hier ging es um Menschen in einer gewaltigen Landschaft mit Bergen und Wolken und einem fernen Meer. Es war atemberaubend. Noch nie hatte ich ein so wundervolles Gemälde gesehen.
Nach und nach erkannte ich die Figuren und begriff, was sie aussagten. Und ich verstand, warum Mr. Lee die Flasche ausgetrunken hatte.
Ich selbst bildete den Mittelpunkt der Szene. Ein roter Drache spie mir Feuer entgegen, und ich schien mit ausgestreckten Armen auf einen Mann zuzulaufen, der kein Chinese war. Im Hintergrund, kaum sichtbar und geisterhaft, war das Bildnis meines Mannes, der zusah, wie ich Gideon entgegenlief. Im Vordergrund saß ein kleines Mädchen mit Schmetterlingen als Augen, und neben ihr ein gespenstisches Baby.
Das Baby, das er mir niemals geben konnte.
38
3 Uhr morgens – Palm Springs, Kalifornien
Atemlos kam Charlotte ins Büro
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