Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
aus.
»Jungs.«
»Warum sollte sie?«
»Ah«, hatte er geantwortet, und noch einmal, nachdenklich: »Ah.«
»Warum geht Johnny fort, Onkel Gideon? Warum verläßt er mich jeden Sommer?«
»Vielleicht versucht er etwas herauszufinden.«
»Zum Beispiel?«
Gideon hatte auf der Holzbank gesessen. Der Wind zerzauste ihm das ergrauende Haar, und er überlegte, während Charlotte auf die klugen Worte wartete, die ihr Herz heilen würden. Dann hatte er genau das gesagt, was sie hören wollte: »Ich mache dir einen Vorschlag. Wie wäre es mit einem Picknick? Nur wir beide. Im Park? Morgen?«
Am nächsten Tag, genau zur verabredeten Zeit, holte er sie ab. Charlotte wunderte sich, daß ihre Großmutter noch zu Hause war. Es war Montag mittag, und sonst war Harmonie um diese Zeit immer in der Fabrik. Sie war auch abends und an den Wochenenden meistens dort, weil es immer etwas gab, um das sie sich kümmern, das sie verbessern, in Ordnung bringen oder planen mußte, und sie es einfach nicht über sich brachte, diese Aufgaben ihren Mitarbeitern zu überlassen.
Aber an diesem Mittag, als Onkel Gideon Charlotte zu ihrem Picknick im Park abholte, war sie da. Und als sie gehen wollten, hatte sich Charlotte noch mehr gewundert, denn ihre Großmutter hatte sie in die Arme genommen und ganz fest gehalten und dabei gemurmelt: »Hab eine schöne Zeit, Charlotte.«
In ihren Augen hatten Tränen gestanden, und Charlotte hatte erst viel später – Jahre später – verstanden, warum.
»Jonathan«, sagte sie jetzt und beobachtete ihn, wie er aus Holzscheiten und alten Zeitungen, die in einer Messingschütte aufgeschichtet waren, ein Feuer im Kamin schürte. »Wenn meine Mutter geistig zurückgeblieben war, wie konnte sie dann als Erwachsene heiraten? Wurde ihre Krankheit geheilt? Oder war sie gar nicht verheiratet und die Geschichte von dem jungen Ehemann, der bei einem Tauchunfall starb, ist ein Märchen, das die Tatsache verbergen soll, daß ich unehelich bin? Ich wette, Margo und Adrian wissen Bescheid. Sie sind ungefähr so alt wie meine Mutter. Ich dachte immer, sie wären mit ihr befreundet gewesen. Aber dieser Zeitungsartikel …« Ihre Stimme brach. »Darin heißt es, Iris Lee war so schwachsinnig, daß sie nicht einmal ruhig sitzen konnte und darum aus dem Gerichtssaal entfernt werden mußte. Wieso habe ich in all diesen Jahren nie etwas davon gehört? Und wie ist sie wirklich gestorben? Lauter Geheimnisse und Lügen! Meine Großmutter hat mir erzählt, meine Mutter sei durch einen Treppensturz zu Tode gekommen. Aber stimmt das, Jonathan, stimmt das?«
Jonathan hockte auf seinen Fersen und betrachtete das Schüreisen. Jemand hatte es blitzblank geputzt. »Ich weiß nicht, Charlotte«, entgegnete er leise. »Je mehr wir herausfinden, desto mehr scheinen wir im dunkeln zu tappen.«
Sie nahm endlich ihren Kaffee und trank. Der Wind rüttelte an den alten Blockhausfenstern, und der Regen prasselte aufs Dach. Sie schloß die Augen und dachte an das, was Desmond gesagt hatte: »Jeder wußte, daß mein geiler alter Großvater einen Hang zu Chinesinnen hatte.« O Desmond, wie sehr du dich irrst. Du und ihr alle, ihr irrt euch.
»Hier geht’s aber nicht zum Park, Onkel Gideon«, hatte die fünfzehnjährige Charlotte gesagt, als sie auf dem Embarcadero nach Süden fuhren.
»Ich meine ja auch nicht den Golden-Gate-Park, Charlotte.«
Sie war nicht weiter in ihn gedrungen. Es würde eine von Onkel Gideons Überraschungen sein.
Er hatte sie in ihrem Leben oft überrascht, mit besonderen Geschenken und Ausflügen, aber diesmal, das merkte sie, als sie die Abzweigung zum internationalen Flughafen von San Francisco nahmen, mußte es etwas ganz Außergewöhnliches sein. Und als er dann zwei Koffer aus dem Kofferraum holte und ihr zwei Pässe zeigte, jeden mit einem Erster-Klasse-Flugschein darin, da begriff sie, daß das jetzt ein wirkliches Abenteuer werden würde.
Er brauchte ihr nicht zu sagen, wohin sie flogen. Schließlich war es eine Maschine der Singapore Airlines. Und nach einundzwanzigeinhalb Stunden Kartenspielen, Filmeanschauen, Schlafen und Essen landeten sie in einem schwülen farbenprächtigen Paradies.
Sie stiegen im Raffles-Hotel ab, in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern, und stürzten sich dann ohne Zögern in die bunte, lebhafte Stadt, wo Polizistinnen in weißen Uniformen den Verkehr an den Kreuzungen regelten und Zwiebelverkäufer, die ihre Waren ringsum zur Begutachtung ausgebreitet hatten, auf dem
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