Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Bürgersteig hockten.
Als sie die Wolkenkratzer und modernen Straßen der Stadt hinter sich gelassen hatten, erforschten sie die schmalen Sträßchen und Gäßchen, in denen es von kleinen Läden, Garküchen und Buden wimmelte. Gideon erzählte ihr, daß er schon zweimal in Singapur gewesen war. »Zuletzt mit deiner Großmutter, die mir zeigen wollte, wo sie zur Welt gekommen ist.«
Sie waren vor einem winzigen Laden stehengeblieben. Auf dem Schild stand »Seiden-Wah, gegr. 1884«.
»Hier ist deine Großmutter geboren«, erklärte Onkel Gideon, »in einem Zimmer im Obergeschoß.«
Diese Geschichte kannte Charlotte schon. Eine richtige Romanze, Mei-ling, die den schönen Richard Barclay rettete, als er von Räubern überfallen worden war, die ihn heimlich gepflegt und versorgt und sich in ihn verliebt hatte. Als Charlotte Johnny einmal nach Hause mitgenommen hatte, um eine Schnittwunde auf seiner Stirn zuzupflastern, hatte sie daran gedacht, was Mei-ling wohl empfunden haben mochte, als der Mann, den sie liebte, stumm und still dalag, während sie ihn mit lindernden Salben und Ölen einrieb. Johnny hatte vertrauensvoll zu ihr aufgeschaut. War es bei Richard Barclay und Mei-ling auch so gewesen?
»Ich verrate dir ein kleines Geheimnis«, hatte Onkel Gideon gesagt, als sie vor dem Seidengeschäft standen. »Deine Großmutter ist nicht so alt, wie die Leute glauben. In Wirklichkeit ist sie zwei Jahre jünger. Du mußt sie bitten, dir einmal von ihren gefälschten Einwanderungspapieren zu erzählen.«
»Und wann warst du zum ersten Mal hier, Onkel Gideon?« hatte Charlotte gefragt. Bei der Erinnerung an Dinge, von denen er niemals sprach, hatte seine Miene sich verdüstert. »Vor dreißig Jahren«, sagte er dann, »im Krieg. Ich saß im Changi-Gefängnis, wo Menschen anderen Menschen Unmenschliches antaten. Das einzige, was mich in dieser Hölle am Leben hielt, war der Gedanke an die Frau, die ich liebe, und mein Versprechen, zu ihr zurückzukehren.«
Charlotte hatte sich an die Kriegsauszeichnungen erinnert, die sie gesehen hatte, und geglaubt, er spreche von seiner Frau, Tante Olivia.
Er führte sie zum Tempel der tausend Lichter, wo sie eine Nachbildung von Buddhas Fußabdruck bestaunten. Sie besuchten das Standbild von Sir Stamford Raffles am Ostufer des Singapore River, das die Stelle markierte, an der der Engländer 1819 das erste Mal an Land gegangen war. Sie nahmen an einem indischen Fest teil, bei dem sich heilige Männer im Lendenschurz Haken, Dornen und Spieße ins Fleisch bohrten und damit herumstolzierten. Zwischendurch aßen sie an Buden Reis und Schweinefleisch kung pao. Sie bewunderten eine chinesische Oper in einem Freilichttheater, wo Schauspieler und Schauspielerinnen in prachtvollen Kostümen kunstvoll geschminkt die Menge mit der Darstellung uralter Mythen und Legenden verzauberten. Auf der Tiong Bahru Road lauschten sie Singvögeln in verzierten Bambuskäfigen, die zur Freude der Passanten ihre Melodien trillerten.
Zuletzt leisteten sie sich im Jurong-Vogelpark ein festliches Picknick aus Curryhuhn und Padangreis und beobachteten dabei die grellbunten Papageien, die kreuz und quer durch die Gischt eines Wasserfalls schossen.
Sie saßen unter dem schwülen, blauen Himmel, und Onkel Gideon sagte: »Weißt du, Charlotte, Beziehungen sind manchmal nicht einfach. Das wirst du selbst merken, wenn du älter bist. Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit. Manchmal wollen sie dich betrügen, vor allem«, setzte er lächelnd hinzu, »wenn du zufällig ein schönes, junges Mädchen bist und ein Junge sich sehr für dich interessiert.«
»Aber woher weiß man«, begann sie, »ich meine, woher weiß das Mädchen …« Ihre Stimme versickerte im Nebel des Wasserfalls, weil sie nicht wußte, was sie eigentlich sagen wollte. Erst heute morgen hatte sie im Speisesaal des Hotels eine Puppe bewundert, die Onkel Gideon ihr am Vortag gekauft hatte, und gleich darauf bewunderte sie den jungen Mann am Nebentisch. War das Leben immer so verwirrend?
»Wenn du einem Jungen sagst, daß du ihn liebst«, fuhr Gideon fort, »und er dir antwortet, das glaube er erst, wenn du es ihm mit deinem Körper beweisen würdest, dann laß ihn laufen. Es bedeutet, daß er dich nicht achtet. Und ohne Achtung kann es keine Liebe geben.«
Sie gestand ihm, daß sie Mädchen kannte, die schon bis zum Letzten gegangen waren. Ein paar von ihren Freundinnen nahmen sogar die Pille. Die Mitteilung schien ihn zu verwirren und traurig
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