Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
vergeudet!«
»Es ist meine Schuld. Ich hätte etwas sagen sollen. Aber als du dann anriefst und sagtest, wir sollten nur Freunde bleiben …«
»Weil ich das andere Gedicht gelesen hatte, in dem so etwas stand, etwas von Freundschaft und nicht mehr … mir war so elend zumute.«
»Nicht halb so elend wie mir. Mein Gott, Charlie, ich liebe dich, das weißt du. Ich habe dich immer geliebt.«
Plötzlich streckten beide die Arme aus, schoben Vergangenheit und Schmerz fort, fanden einander und verschmolzen, bis sie sich mit aller so lange zurückgehaltenen Leidenschaft küßten, ein Kuß, der sechzehn Jahre gewartet hatte.
Sie schloß die Augen und überließ sich seiner Umarmung, die Arme um seinen Hals geschlungen, die Hände in seinem nassen Haar, ihre Zunge in seinem Mund. Sie schmeckte ihn, stillte einen Hunger, der allzulange an ihr genagt hatte. Jonathan hielt sie so fest, daß beide kaum atmen konnten, drückte sie an seinen Körper, die Hände in ihrem Haar, auf ihrem Rücken, ihrer Taille, wollte alles an ihr auf einmal fühlen, labte sich gierig an ihren Lippen.
»Johnny, Johnny, ich liebe dich …«
»Charlotte, mein Gott …«
Er wühlte in ihrem Haar, vergrub seine Finger darin, schob es zur Seite und küßte ihren regennassen Hals. Seine Härte berührte ihren Schenkel.
Dann hörten sie ein Geräusch, klein und schwach im Prasseln des Feuers, aber hartnäckig, ein stetiger Rhythmus. Sie sahen zum Computer hinüber. »Wir haben ihn!« sagte Jonathan. »Der Spürhund hat den Eindringling gefunden!«
Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Blockhütte.
Die Erde bebte, und in der Hütte und in Tinys Bergwinkel gingen der Strom und sämtliche Lichter aus.
49
1957 bis 1958 – San Francisco, Kalifornien
Ich hatte Mrs. Katsulis nie so außer sich gesehen.
Sie war seit acht Jahren bei mir tätig und hatte sich in dieser ganzen Zeit nie anders als zuverlässig, standfest und vernünftig gezeigt, Eigenschaften, derentwegen ich sie überhaupt erst eingestellt hatte.
Mrs. Katsulis war die Gesellschafterin von Iris, eine diplomierte Krankenschwester mit Erfahrung im Umgang mit entwicklungsgestörten Erwachsenen. So nannten es die westlichen Ärzte, sie sagten, meine Tochter sei »entwicklungsgestört«. Chinesische Ärzte sprachen davon, daß der Fluß zwischen ihren neunundfünfzig Meridianen gehemmt sei. Gideon hörte auf die westlichen Ärzte und wollte, daß Iris Medikamente mit Unglück verheißenden Namen wie Methylphenidat und Chlorpormazin ausprobierte. Aber ich beruhigte das Blut meiner Tochter und glättete ihr chi mit Aufgüssen von Chrysanthemen, Frauenschuh und fossilem Drachenbein. In ihr Schlafzimmer legte ich mit Lavendel gefüllte Kissen und stellte Schalen mit Orangenblüten auf. Ich entfernte alle Spiegel, in denen man ihr Bett sah, damit ihr Geist sich nicht erschreckte, wenn sie schlief und er seinem eigenen Bild begegnete. An die Wände malte ich acht Glückssymbole in Türkis, der Farbe des Nordostens, die selbst auch ein Glückssymbol ist. Im Lauf der Zeit fand der wurzellose Geist meiner Tochter zu einer gewissen Ruhe. Wenn sie nicht mit ihren riesigen, komplizierten Puzzlespielen beschäftigt war, die sie mit verblüffender Geschwindkeit zusammensetzte, konnte sie lange Zeit still auf dem Dach, im Garten oder am Swimmingpool sitzen. Dabei machte sie einen ganz normalen Eindruck, und wer sie zum ersten Mal sah, glaubte lediglich, sie sei schüchtern.
Und dann begann sie eines Tages zu wandern. Ich ließ an allen Türen neue Schlösser anbringen, aber es war wie mit den Rätselkästchen und Puzzlespielen: Es gab kein Schloß, das Iris am Ende nicht doch aufbekommen hätte. Aus diesem Grund schlief Mrs. Katsulis jetzt bei ihr im Zimmer. Meine Tochter war eine schöne junge Frau geworden, und Männer, die sie nicht kannten, hielten ihr Verhalten für Spielerei, eine Aufforderung zur Verführung.
Woher dieser plötzliche Trieb zu wandern kam, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Vision sie von zu Hause fortlockte, aber es schien, als halte sie nach etwas Ausschau. Einmal, als sie in diesem Zustand war, folgte ich ihr und merkte, daß sie sich wie jemand bewegte, der sich verirrt hat und nach Wegweisern sucht, die nach Hause führen. Als ich sie an der Ecke anhielt, lächelte sie nur und kam mit mir zurück. Aber ich fragte mich, wie weit sie sonst wohl gegangen wäre, bis sie das gesehen hätte, bei dem sie hätten denken können: Nun bin ich
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