Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
angekommen.
Ich hatte keine anderen Kinder. Mr. Lee hatte mir kein Baby schenken können, und nach seinem Tod konnten Männer nur noch Freunde für mich sein. Mein Herz gehörte Gideon Barclay, der immer der einzige Mann bleiben würde, den ich liebte, und Iris war das Kind dieser Liebe. Das genügte mir. Vielleicht krampfte sich manchmal mein Herz zusammen, wenn ich an Enkel dachte oder die Enkel anderer Frauen meines Alters sah, denn Iris konnte niemals heiraten und ich – neunundvierzig Jahre und unverheiratet – wußte, daß ich keine Kinder mehr bekommen würde. Richard Barclays Linie endete mit meiner Tochter.
Darum war ich, als Mrs. Katsulis händeringend zu mir kam, das Gesicht so weiß wie die Wolken über der Bucht, vollkommen verwirrt, als sie mir berichtete, was sie über Iris herausgefunden hatte. Zuerst war ich zornig und empört gewesen, daß jemand es gewagt hatte, meine kostbare Tochter anzutasten, und ich schämte mich, weil Schande auf uns gefallen war. Dann aber dachte ich: Iris ist schwanger, und es ist nicht wichtig, wer der Mann ist, weil die Blutlinie, die mit Richard und Mei-ling begann, nun doch nicht ausstirbt.
Natürlich sagte ich es Gideon, der wie erwartet voller Zorn war. Als Iris’ Vater wollte er den Täter finden und Strafe für ihn fordern. Aber wir hatten keine Möglichkeit, denn Iris hatte eines Nachts, ohne daß Mrs. Katsulis wachgeworden war, ihr Zimmer verlassen, und wir hatten sie dann am nächsten Morgen schlafend in der Laube auf dem Dach gefunden. Alle dachten, sie sei nur dort hinaufgegangen, um die Sterne anzuschauen. Nun wußte ich, daß sie auch auf die Straße hinausgelaufen war. Allein ihrem Glück und dem wachsamen Schutz der Göttin Kwan Yin verdankte es meine Tochter, daß ihr nicht noch Schlimmeres zugestoßen war.
Gideon wollte zur Polizei gehen. Das war seine Art, etwas zu erledigen, auf dem offiziellen Weg, so wie die Amerikaner es taten. Aber es gab auch den Weg der Familie, mit solchen Dingen umzugehen, die chinesische Art. Ich mußte die Ehre meiner Tochter schützen.
»Ich werde mit ihr nach Hawaii reisen«, sagte ich Gideon. »Dort ist sie vor neugierigen Augen sicher und kann in Ruhe ihr Kind zur Welt bringen. Nach unserer Rückkehr werde ich allen erzählen, daß sie geheiratet hat und der junge Mann bei einem Unfall gestorben ist.«
»Harmonie«, sagte Gideon so sanft, daß ich mich danach sehnte, von ihm umarmt zu werden. »Kein Mensch wird das glauben.«
»Ich weiß. Aber alle werden höflich sein und das Gefühl haben, sie müßten helfen, die Ehre meiner Tochter zu wahren. Es wird ein offenes Geheimnis sein, das alle kennen, so daß keiner darüber tuscheln muß.«
Es gab viele Vorbereitungen zu treffen, bevor ich mit Iris nach Honolulu fuhr, denn ich hatte immer noch die alleinige Kontrolle über meine Gesellschaft für Naturheilmittel, die jetzt als »Haus der Harmonie« firmierte. Die Fabrik in Daly City war mehrfach erweitert und renoviert worden, und auf Gideons Rat hatte ich auch endlich auf automatische Maschinen umgestellt. Ich hatte inzwischen gelernt, daß es vorteilhaft sein konnte, auf den Rat anderer zu hören, denn als ich der Empfehlung des jungen Mr. Sung folgte, den Mitarbeitern unsere Produkte gratis anzubieten, verbesserte sich die Qualität, wie von ihm vorhergesagt, zusehends, weil niemand wußte, aus welcher Produktion er etwas bekommen würde. Wir hatten nie wieder ein Problem, und mein Unternehmen wuchs stetig weiter. 1949 wurden Importe aus der Volksrepublik China mit einem Embargo belegt, das den Nachschub an Kräutern einschneidend minderte. Von da an ließen wir uns über Hongkong beliefern, und zwar über unsere eigene Niederlassung, der Harmonie-Barclay Ltd. Das Wachstum hielt an. Als die Leute gesundheitsbewußter wurden und besser über die Bedeutung von Vitaminen und Kräutern Bescheid wußten, begannen die Rezepte meiner Mutter auch außerhalb von Chinatown populär zu werden und in Drugstores, Märkten und einer neuartigen Sorte Geschäft, den sogenannten Reformhäusern, aufzutauchen.
Während ich damit beschäftigt war, ausführliche und detaillierte Anweisungen für mein Aufsichtspersonal zu entwerfen, denn immerhin rechnete ich damit, fast ein Jahr abwesend zu sein, bekam ich unerwarteten Besuch.
Olivia Barclay hatte seit dem Tag ihres Auszugs vor fünfzehn Jahren nie wieder einen Fuß in das Haus gesetzt. Ich hatte sie auch sonst kaum gesehen – einmal bei Margos und Adrians Hochzeit, zu
Weitere Kostenlose Bücher