Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
warum zum Teufel hätte ich nicht heiraten sollen?« brüllte er. »Du warst es doch, die unbedingt ihre Freiheit wollte!«
Sechzehn Jahre verschwanden plötzlich, als zöge man ihnen den Boden unter den Füßen weg.
Charlotte fühlte sich, als schwebe sie im leeren Raum. Als sie krachend wieder auf der Erde landete, war es wieder 1981, und Johnny hatte ihr einen Gedichtband geschickt. Sie war nach oben in ihr Zimmer gerannt, ohne ihrer Großmutter auch nur ›Guten Tag‹ zu sagen, hatte die Tür zugeknallt, sich aufs Bett geworfen und die Titelseite aufgeschlagen. Dort stand in seiner Handschrift: »Das sind meine Gefühle. Seite 97.« Fieberhaft und mit zitternden Händen hatte sie geblättert, weil es jetzt endlich soweit war – Johnny hatte den Panzer seiner Stummheit durchbrochen und sagte ihr, wie sehr er sie liebte.
Dann war der Traum in tausend Stücke gebrochen, als ihr die Sätze entgegensprangen – häßliche, kalte, verletzende Worte: »Ich gehe meinen eignen Weg«, »Freier Raum und Einsamkeit sind mein Brot und Licht«, »Eine Seele allein, eine einsame Seele«.
Worte vom Weggehenwollen, von der Erinnerung an »den Herbst unserer Liebe«, von Freundschaft, »Kette und Krampf meines Herzens«.
Ganz betäubt von diesen Worten, hatte sie nicht einmal weinen können. Sie hatte ihn in Boston angerufen.
»Ich möchte, daß wir Freunde bleiben, Johnny.«
Sie hatte es so gesagt, als wäre es von Anfang an ihre eigene Idee gewesen, weil ihr das die Demütigung ersparte, ihr half, den Schmerz der Zurückweisung zu verbergen. »Ja, eine Entfernung von dreitausend Meilen … ja, deine Arbeit, und ich habe meine …«
Jedes Wort schnitt ihr wie ein Messer ins Herz und trieb Jonathan Stück für Stück aus ihrem Leben. Sie würde ihm nie verraten, wie tief das Gedicht sie verletzt hatte, würde weder ihm noch anderen Menschen je wieder Gefühle zeigen.
»Hör zu, Charlie«, wiederholte er jetzt, hier draußen im Regen, streckte durch Jahre und Unwetter die Hand nach ihr aus.
Sie schluchzte und atmete in heftigen Zügen Luft und Regen ein. »Geh doch zurück zu Adele! Laß mich in Ruhe!«
»Ich gehe nicht zu Adele.«
»Lüg mich nicht an! Was willst du hier, Jonathan? Warum bist du gekommen?«
»Weil du in Gefahr bist.«
»Was liegt dir schon daran?« schrie sie auf, und ihre Tränen rannen in die Regentropfen auf ihren Wangen. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und stieß ihn zurück.
»Charlie, darum bin ich hier. Weil ich mich um dich sorge.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Du sagst, du hättest vom Tod meiner Großmutter gelesen. Wäre es zuviel gewesen, mich anzurufen? Oder auch nur eine Karte zu schicken? Ich brauchte dich. Ich habe gewartet.«
»Aber ich habe eine Karte geschickt, und auch Blumen.«
Sie reckte das Kinn.
Der strömende Regen und der Wind ließen ihr aufgelöstes Haar wie schwarze Bänder um Wangen und Schultern flattern. »Es gab keine Blumen von dir.«
»Charlotte, ich habe eine Quittung.« Er streckte bittend die Hände nach ihr aus. »Ich war in Südafrika und kam dort nicht weg. Ich habe es versucht. Ich habe dafür gesorgt, daß das Bestattungsinstitut dem Blumenhändler eine unterschriebene Quittung gab. Und angerufen habe ich dich auch. Ich hinterließ Dutzende von Nachrichten. Du hast nie zurückgerufen.«
Sie starrten einander an.
»Jemand muß sie abgefangen haben«, sagte er. »Jemand, der nicht wollte, daß wir wieder zusammenkamen.«
Charlotte brach in jähes Schluchzen aus. »Ach, Johnny! Am Abend, als sie abreiste, hatten meine Großmutter und ich einen schrecklichen Streit. Ich habe ihr fürchterliche Dinge gesagt. Sie war hinter einem neuen Kraut her, aus dem sich vielleicht ein Tee machen ließe. Ich sagte ihr, wir könnten es erst einmal untersuchen und seine chemische Zusammensetzung prüfen. Sie lehnte ab. Sie wollte nie, daß ihre Kräuter analysiert wurden. Von Molekularstrukturen, chemischen Grundstoffen und Enzymen wollte sie nichts wissen. Ich sagte ihr, daß es schließlich die Analyse ihrer geliebten Kräuter gewesen wäre, die mich auf die Formel für GB4204 gebracht hätte, und fügte hinzu, sie hätte sich wohl nicht wirklich etwas aus Onkel Gideon gemacht.«
»Hör auf, Charlie. Du wußtest es doch nicht.«
»Warum hat sie mir nie von sich und Gideon erzählt? Warum hat sie sich wortlos abgewandt, als. ich ihr einmal einen Eiscreme-Sundae anbot? Warum konnte sie nicht einfach sagen: ›Nein, das ist eine zu schmerzliche
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