Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
etwas angingen, suchte ich ihn auf und bat ihn, Ihnen wenigstens diesen Brief zukommen zu lassen, sofern es in seiner Macht stünde. Ich weiß nicht, wo Sie jetzt sind, Harmonie, aber der Klient dieses Detektivs muß es ja wissen, denn warum würde er sonst nach Ihrer Herkunft forschen? Weil ich diesem Mann nun die Wahrheit gesagt habe, muß ich sie um Ihretwillen auch Ihnen mitteilen, damit man sie nicht gegen Sie verwenden kann – eine Wahrheit, liebe Harmonie, die niemals preiszugeben ich einst geschworen habe.
Ihre Mutter ist in dem Jahr, als Sie nach Amerika aufbrachen, nicht gestorben.«
Den Rest nahm ich in Bildern wahr und nicht in Worten. Sie sprangen mir aus dem Papier entgegen wie Filmszenen auf einer Leinwand.
Meine Mutter, die von dem neuen Einwanderungsgesetz hörte, das in den Vereinigten Staaten verabschiedet werden sollte und selbst den Kindern amerikanischer Bürger die Einreise untersagte.
Meine Mutter, die Reverend Peterson um Hilfe bat.
Die beiden, die einen Plan ersannen, zu dem gehörte, daß mein Geburtsjahr geändert wurde, damit ich achtzehn statt sechzehn war und als Erwachsene reisen konnte.
Meine Mutter, die vorgab, krank und dem Tode nah zu sein, damit ich fortging und bei meinem Vater in Amerika ein neues Leben anfangen konnte.
»Ich erzählte diesem Betrüger«, schrieb Reverend Peterson, »von Mei-lings und meiner Täuschung und davon, daß wir amtliche Papiere gefälscht hatten. Das kann man gegen Sie verwenden, und ich bedaure es zutiefst. Aber ich bedaure nicht, daß ich mein Versprechen, das ich Ihrer Mutter gegeben hatte, gebrochen habe, denn weil ich Ihnen nun diese Unglückbotschaft senden muß, kann ich Ihnen gleichzeitig auch andere, erfreulichere Dinge mitteilen. Wie gesagt, ist Ihre Mutter damals, als Sie Singapur verließen, nicht gestorben, und sie starb auch nicht im nächsten oder übernächsten Jahr. Aber eines Tages, wenige Monate nach Ihrer Abreise, kam sie zu mir und erzählte mir eine erstaunliche Geschichte: ihr Vater war zu ihr gekommen. Er hatte sie in der Malay-Straße aufgesucht und ihr gesagt, dadurch, daß sie sich selbst verstoßen und als Unperson gelebt hätte, habe sie ihm Ehre gebracht, und er bitte sie, wieder nach Hause zurückzukehren.
Ich habe die beiden dort besucht. Wie lieblich war Mei-ling im Garten ihres Vaters, als sie uns Tee und die wunderbaren Kuchen, für die sie berühmt war, vorsetzte! Nie habe ich eine Frau so glücklich gesehen. Ich weiß auch, woher dieses Glück kam: weil Sie, Harmonie, Ihren Vater finden würden.
Ich fragte sie, warum sie so getan hätte, als würde sie bald sterben, und sie antwortete, daß es das einzige Mittel gewesen wäre, Sie zur Abreise zu bewegen. Und wenn sie schon nicht mit dem Mann leben konnte, den sie liebte, dann sollte wenigstens ihre Tochter bei ihm sein.
Später, als wir beide allein und außer Hörweite anderer waren, erzählte mir Ihre Mutter etwas höchst Sonderbares. Sie sagte, bald nachdem sie in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt sei, habe sie Nachforschungen über Ihren Verbleib in Amerika angestellt. Sie mußte das ohne Hilfe ihres Vaters tun, denn Sie waren ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen ihnen, weil Sie, Harmonie, die Schande darstellten, die auf ihrer Familie lastete. Aber Mei-ling mußte wissen, ob es Ihnen gutging und Sie Ihren Vater gefunden hatten. Diese Fragen brannten in ihrem Herzen, als sie einen Brief nach dem anderen an eine Auskunftei in San Francisco schrieb und lange Wochen auf Antwort wartete. Endlich erhielt sie Nachricht – einen Zeitungsausschnitt, der Ihre Verlobung mit Gideon Barclay bekanntgab. Sie wollte Ihnen sofort schreiben.
Aber ihr Vater – Ihr Großvater – entdeckte ihre Absicht. Er erinnerte sie daran, daß sie durch die Verbannung ihrer unehelichen, von einem fremden Teufel gezeugten Tochter die Familienehre wiederhergestellt hatte. Diese Tochter nun nach Singapur zurückzuholen, hätte neuerliche Schande bedeutet. Mei-ling wußte nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht zu Ihnen nach Amerika fahren, weil die amerikanischen Gesetze die Einreise von Chinesen verboten. Und sie konnte Sie nicht bitten, zu ihr zu kommen.
Sie betete zu Kwan Yin und erhielt auf höchst merkwürdige Weise Antwort. Ihre Mutter erzählte mir, daß die Göttin mit der Stimme ihrer eigenen, Mei-lings, Mutter zu ihr gesprochen habe. Ihre Mutter war vor langer Zeit gestorben, als Mei-ling noch ein Kind war. Die Stimme sagte: ›Harmonie gehört nicht mehr
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