Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Fuß und fixierten die gebrochenen Zehen in der neuen, gequetschten Stellung, die nur den großen Zeh freiließ.
    Alle waren sich darin einig, daß es ein Glück für das Kind sei, von Mei-ling eingebunden zu werden. Natürlich war dieser Vorgang nie schmerzlos, weil man dabei die Knochen brechen mußte, aber Mei-ling verfügte über besonders wirksame schmerzstillende Mittel und über Tränke, die den von Angst erfüllten Geist besänftigten. Außerdem hatte sie eine ganz eigene Art – ihre bloße Gegenwart wirkte schon beruhigend.
    Tatsächlich war Mei-ling eine Legende auf der Insel: eine hochgebildete junge Frau, die kranke Körper berührte, dabei aber eingebundene Füße hatte, was bedeutete, daß sie von hohem Stande war.
    Das Geschrei des Kindes war furchteinflößend, und die Kerzen vor dem Altar der Kwan Yin flackerten, als wollten sie das Mitgefühl der Göttin ausdrücken. Draußen, hinter der hohen Mauer, die den Hof umgab, feierten die Einwohner von Singapur ein lärmendes Fest zu Ehren der Toten.
    Mei-ling arbeitete mit geteilter Aufmerksamkeit, halb war sie auf das Füßebinden konzentriert und halb auf ein Omen, das ihr vor ein paar Tagen erschienen war und das eine Wahrsagerin für sie gedeutet hatte. »Das Geisterfest naht«, hatte die alte Frau gesagt. »Es bringt mehr als die Geister der Verstorbenen in Mei-lings Leben. Es bringt einen fremden Teufel.«
    Einen Mann, hatte die Wahrsagerin noch ergänzt, von jenseits des Meeres, mit blonden Haaren und grünen Augen.
    »Ist es ein Brite, Ehrwürdige?« hatte Mei-ling gefragt. Wie bei allen aus ihrer Familie, die als aristokratische Chinesen ihren Stammbaum bis zur Erschaffung der Welt zurückverfolgen konnten, bestanden ihre Gefühle für die Engländer aus einer Mischung von Nachsicht, Neugier und Ungeduld.
    Aber die Wahrsagerin hatte verneint. »Amerikaner.«
    Und nun war das Geisterfest da, und in den Straßen von Singapur wimmelte es von Ständen mit erlesenen Köstlichkeiten, Puppenspielern und chinesischen Opern zur Unterhaltung der Toten. Es war der siebte Mondmonat, in dem der Überlieferung nach die Tore der Hölle offenstanden, damit die Seelen der Dahingeschiedenen ihre Nachkommen besuchen konnten. Familien veranstalteten in ihren Häusern üppige Festessen und ehrten damit ihre Verstorbenen. Die Seelen derer jedoch, die keine Nachkommen besaßen, durchstreiften hungrig und neidisch die Straßen und wurden dort mit Speisen und Zerstreuungen besänftigt. Überall in der Stadt brannten Kerzen und Weihrauch. Die schweren Düfte zogen über die Gartenmauer und legten sich über Mei-ling und die um sie versammelten Frauen.
    Als das Einbinden beendet war, befand sich das kleine Mädchen in einem Schockzustand, stumm und am ganzen Leibe bebend. Um es zu trösten, zeigte Mei-ling ihm ihre eigenen Füße, winzig und kostbar, in drei Zoll langen, gestickten Pantoffeln.
    Nachdem die Familie ihre Tochter wieder an sich genommen und sie zurück ins Haus getragen hatte, um dort in laute Freudenrufe über ihre neuen Füße auszubrechen, bahnte sich Mei-ling langsam einen Weg durch die vollen Straßen. Gaukler unterhielten Tote und Lebende, und die Menschen saßen an festlichen Tafeln und teilten ihre Köstlichkeiten mit umherirrenden Geistern. An Mei-lings Seite ging ihre treue Dienerin und trug den Kasten mit Arzneien und Instrumenten, ohne den sie nie das Haus verließ. Immer wieder dachte sie an die Worte der Wahrsagerin über den Fremden aus Amerika nach, der in ihr Leben treten würde. Aber wann? Wo? Und woran sollte sie ihn erkennen? Und würde er ihr Gutes oder Schlechtes bringen? Wollte das Omen sie vor ihm warnen oder war es eine Aufforderung, auf ihn zuzugehen?
    Mei-ling hatte niemandem davon erzählt, obwohl es sehr schwer für sie war, ein solches Geheimnis zu wahren, denn sie lebte inmitten einer großen Familie. Das prächtige Haus in der Pfauengasse lag im reichen Viertel von Singapur und beherbergte nicht nur Mei-ling und ihren verwitweten Vater, sondern auch etliche weibliche Verwandte, die sonst kein Heim besaßen – Witwen, ledige Tanten, junge Nichten und Kusinen –, und darüber hinaus auch Goldanmut und Sommermorgenröte, die Gattinnen von Mei-lings beiden Brüdern, dem Ersten Jungen Herrn und dem Zweiten Jungen Herrn, sowie Mondorchidee und Mondzimt, die Babys der Dritten Gemahlin ihres Vaters, die im Kindbett gestorben war. Ein Haus voller Frauen, aber es war Mei-ling, deren Name Strahlende Intelligenz bedeutete. Und die

Weitere Kostenlose Bücher