Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
ich wußte, daß sie es ohnehin zurückgewiesen hätte.
»Um meine Würde zu wahren.« Ihre Augen folgten der hohen Gestalt die Straße hinunter, bis sie in der Menge verschwunden war. »Eine Bettlerin zu sein, Harmonie, wenn man einst die Tochter eines Edelmannes war, ist ein Gesichtsverlust, schlimmer als der Tod.«
»Aber warum hat er innegehalten?«
»Weil er erkannte, daß meine Ehre mir nötiger war als das Geld.«
»Woher konnte er das wissen?«
»Weil dieser Mann, Harmonie, dein Großvater ist … mein Vater.«
Und so erfuhr ich die wahre Geschichte meiner Mutter, denn sie erzählte sie mir, als wir langsam heim zu unserem kleinen Zimmer über dem Freudenhaus in der Malay-Straße gingen.
Vor siebzehn Jahren, als Mei-ling in den Raum über Madame Wahs Seidengeschäft zurückgekehrt war, den Amerikaner nicht mehr vorfand und sich ein neues Leben in ihrem Leib regte, wußte sie, daß sie nach Hause gehen und ihren Vater um Gnade anflehen konnte. Vielleicht hätte sie sein Herz gerührt, und er hätte sie versteckt, so daß sie weiterhin in dem Haus hätte leben können, das sie so liebte, um dort auf ihren Amerikaner zu warten. Aber Mei-ling brachte es nicht über sich, ihren Vater zu entehren.
Statt dessen wurde sie Zeugin ihres eigenen Begräbnisses. Sie hatte ihre alte Dienerin in das Haus in der Pfauengasse geschickt, um dort zu melden, daß ihre junge Herrin in die Bucht gefallen sei, als sie ein ertrinkendes Kind retten wollte. Die Dienerin bestach Dockarbeiter und Kulis, die bezeugten, auch sie hätten die Heldentat gesehen. Der Vater, so berichtete die Dienerin Mei-ling, sei in tiefen Kummer verfallen, denn er hatte seine Tochter sehr geliebt. Er ließ ihr eine prunkvolle Bestattung ausrichten, obwohl ihr Leichnam nie aus dem Wasser geborgen worden war. Mei-ling war traurig über soviel Schmerz gewesen, aber sie wußte, daß der Schmerz der Wahrheit weit größer gewesen wäre – eine in Ehren verstorbene Tochter war besser als eine ehrlos lebende.
Nun begriff ich den Ausdruck in den Augen des Mannes, als er meine Mutter erblickte, zuerst unsicher und verwirrt, dann entsetzt und schließlich bewundernd, denn als er mich sah und meine Züge erkannte – schließlich war ich seine Enkelin –, wurde ihm urplötzlich klar, was Mei-ling getan und welches Opfer sie für die Familienehre gebracht hatte.
Als sie mit ihrer erstaunlichen Geschichte fertig war, hatten wir das Zimmer in der Malay-Straße erreicht. Dort wartete ein Mann auf uns. Ich kannte ihn aus der Mission. Er überbrachte ein Päckchen von Reverend Peterson – die Papiere, die mich nach Amerika bringen sollten, alle vom US-Konsul in Singapur amtlich gestempelt. Ich hatte sogar eine richtige Geburtsurkunde, die meinen Vater als amerikanischen Bürger aufführte. Der Grund dafür war, daß meine Mutter von Reverend Peterson erfahren hatte, daß es in Amerika ein Gesetz gab, nach dem die Kinder von Amerikanern, wo immer auf der Welt sie auch geboren waren, automatisch zu Bürgern der Vereinigten Staaten wurden. Als ich die Heiratsurkunde von Mei-ling und Richard sah, erklärte meine Mutter: »Dein Vater und ich waren verheiratet, Harmonie. In unseren Herzen waren wir ein Ehepaar. Reverend Peterson ist ein guter Mensch, der weiß, wie schlecht es den Frauen geht. Mit diesen Papieren, die zu beschaffen mich viele Jahre, viele Gefälligkeiten und viel Geld gekostet hat, Harmonie, werden sich die Tore des Goldenen Landes für dich öffnen.«
Goldenes Land … der Name für das Land am östlichen Rand des Meeres.
Aber als meine Mutter die Papiere prüfte, stieß sie einen Schrei aus. »Aii-yah! Sie haben einen Fehler gemacht! Sie haben das Jahr deiner Geburt verändert.«
Ich schaute auf die Dokumente. Sie hatte recht. Überall hieß es, ich sei 1906 geboren, nicht 1908.
»Du bist ein Drache! Sie haben dich zu einem Tiger gemacht. Das bringt Unglück! Du wirst einen verworrenen Weg gehen, hierhin gerissen und dorthin. Der Drache ist glücklich und erfolgreich und findet einen guten Gatten. Der Tiger ist unvorsichtig und ungeduldig und heiratet überhaupt nicht.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Nicht mehr zu ändern. Du bist nun zwei Jahre älter. Daran mußt du für den Rest deines Daseins denken.«
Und so geschah es durch einen seltsamen Zufall, daß ich von da an immer zwei Jahre in der Zukunft lebte.
»Bring mir die Göttin, Harmonie«, sagte meine Mutter endlich. Vor unseren Fensterläden verschwand das letzte
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