Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
sein, daß es sich nicht um einen Unfall handelte? Es überlief sie ein kalter Schauer. Wenn es absichtlich geschehen war, würde der Täter es wieder versuchen, und Charlotte hatte keine Ahnung, wo oder wann er das nächste Mal zuschlagen konnte.
Sie drückte einen Knopf auf der Schalttafel, und der Seiteneingang zum Hauptgebäude wurde sichtbar. Sie sah, wie jemand in den Regen hinaustrat und schnell zum nächsten schützenden Dach lief. Mr. Sung. Wohin mochte er so eilig unterwegs sein? Er wirkte erregt. Etwas, das gar nicht zu ihm paßte …
Wieder blickte sie zum Museumseingang. Jetzt war die Gelegenheit, die sie gesucht hatte, denn alle waren so beschäftigt, daß sie Jonathan unbemerkt in die Laboratorien und Fabrikationshallen hätte führen können. Aber er hatte sich nicht gemeldet.
Sie betrachtete die beiden Computer, die wie fremdartige Ungeheuer auf dem Schreibtisch ihrer Großmutter hockten. Der eine zeigte den letzten Bildschirm, den Jonathan aufgenommen hatte. Es war Margos und zeigte ihren geöffneten E-Mail-Briefkasten. Hatte sie gerade ein E-Mail abschicken wollen? Auf dem anderen Computer blitzten Textstücke auf, während ein Suchprogramm die Datenbank der Firma durchstreifte und komprimierte – eine KI, hatte ihr Jonathan erklärt, »Künstliche Intelligenz«, seine eigene Erfindung, ein Softwareprogramm, das, während es arbeitete, dazulernte.
Lief es schnell genug? Charlotte bemühte sich, ein Zittern zu unterdrücken. Wie konnte Jonathan so fest darauf vertrauen, daß er diesen Irren erwischen würde? Vielleicht sollte sie Knight doch von den E-Mails erzählen. Nein – Jonathan hatte recht. Am besten führten sie ihre eigene, geheime Untersuchung durch. Soweit sie wußte, kam das FDA-Team kaum voran. Außerdem bezweifelte sie, daß der Kerl, der sie mit der Garagentür umbringen wollte, sich von den Bundesagenten abschrecken lassen würde.
Plötzlich flog die Tür auf, und Jonathan kam herein. Er schüttelte den Regen ab und sagte: »Erledigt. Sobald sich hier jemand ins Internet einloggt, wissen wir es. Irgendwelche Neuigkeiten von unserem anonymen Freund?«
Sie sah, wie seine feucht gewordenen Haare sich ganz leicht kräuselten, und mußte an das Gefühl von einst denken, wenn sie ihm mit den Fingern durch diese Locken gefahren war – damals. Heute hatte eine andere Frau das Privileg. »Nur die eine, die schon vor einer Weile kam. Ich habe die Mail zugemacht. Ich konnte den Anblick auf dem Bildschirm nicht ertragen. Jonathan, jetzt ist ein günstiger Moment, um in die Laboratorien zu gehen.«
»Gut.« Er sammelte seine Sachen zusammen, schloß die schwarze Tasche und hängte sich den Riemen über die Schulter. »Denk immer daran, daß wir äußerst vorsichtig sein müssen. Niemand darf uns sehen. Das Werk steht unter offzieller Beobachtung durch eine Bundesbehörde, und man könnte uns alles mögliche zur Last legen – angefangen von Behinderung der Ermittlungen bis hin zu Verfälschung von Beweismaterial.«
Die Warnung war unnötig. Charlotte war schon einmal verhaftet worden. Sie hatte überfüllte Gefängnisse, gleichgültige Polizisten und das Entwürdigende einer Leibesvisitation kennengelernt. Das wollte sie kein zweites Mal riskieren. Und die Handschellen … nie würde sie das Gefühl von kaltem Metall an ihren Handgelenken vergessen, als ob sie ein stummes Tier war, das man zur Schlachtbank führt. Der Beamte, der sie verhaftet hatte, wollte ihr nicht einmal erlauben, sich das Blut von den Händen zu waschen. Er hatte wütend gewirkt, als wollte er, daß sie den Beweis ihrer schändlichen Tat auch zur Schau trage. Sie hatte versucht, ihm alles zu erklären, aber er hatte nicht zugehört. Niemand wollte ihr zuhören, außer ihrer Freundin Naomi. Sie allein hatte verstanden, warum Charlotte so handeln mußte.
15
Als sie am Museumseingang standen, hörten sie in der Ferne gedämpftes Donnergrollen, und gleich darauf bebte das Gebäude. Jonathan öffnete die Tür einen Spalt breit. Draußen war es dunkel. Das Licht der Lampen am Weg schien auf strömenden Regen. Als es wieder krachend donnerte, lauter und näher, sah Jonathan in Richtung der Büros und fragte: »Hat der Computer eine Stromreserve?«
»Ja, alle unsere Geräte haben eine. Für zwei Stunden, glaube ich.«
»Nicht viel, wenn der Strom ganz ausfällt. Bist du bereit?«
Sie huschten hinaus in den Regen und rannten über die überdachten Wege, wobei sie sich ständig vergewisserten, daß niemand, der
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