Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
fügte sie kummervoll hinzu.
Ich kannte den verächtlichen Ausdruck, der für mich galt, stengah, was malaiisch war und »kleiner Whisky« bedeutete. Wörtlich hieß es »halb«, denn ich war Eurasierin und gehörte damit zur niedrigsten sozialen Schicht.
»In Amerika ist es anders«, erzählte mir meine Mutter. »Dort wird man dich akzeptieren.« In Singapur dagegen war es wie in China: als Mädchen geboren werden, war Strafe genug. Ein Mädchen, das noch dazu eine Ausgestoßene war, hatte keinerlei Zukunft. »In Amerika kannst du dein Glück beeinflussen. In Amerika kann ein Bauernsohn König werden und eine uneheliche Tochter Ansehen erwerben.«
Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Ich war unsichtbar aufgewachsen. Wir waren »Nicht-Menschen«, die Verstoßene, die einst die geliebte Älteste Tochter eines Gelehrten und seiner Ersten Gemahlin gewesen war, und ihre von einem Ausländer gezeugte, illegitime Tochter. Wir gehörten nirgendwohin, hatten keine Familie, keinen Clan, keine Ahnen. Keine Kaste würde uns aufnehmen, und weil jeder Mensch auf einen anderen heruntersehen muß, zählten wir zur niedrigsten Gesellschaftsschicht, knapp über den Bettlern und Aussätzigen.
Endlich kehrte meine Mutter dem Hafen und seinen Schiffen den Rücken und sagte: »Wir wollen nach Hause gehen und unsere Vorbereitungen treffen.«
Meine Mutter und ich lebten in der Malay-Straße, die auch die »Blutige Gasse von Singapur« genannt wurde. Hier, zwischen den offenen Läden, den Trinkständen, den Schießbuden und Bordellen, war das übelste Verbrechen der Insel ebenso zu Hause wie die beste Unterhaltung. Es gab chinesische Theater, voll von Ladenbesitzern und Rikschajungen oder Pantomimenkünstler, die auf der Straße spielten, und indische Gully-Gully-Männer, die Kobras aus Körben flöteten.
In unserem kleinen Zimmer über Abdul Salahs Freudenhaus bereiteten meine Mutter und ich die Arzneien zu, die wir verteilten oder verkauften. Ich lernte von ihr das Geheimnis des Goldlotustranks, benannt nach der Dame Goldlotus, einer Dichterin des elften Jahrhunderts. Sie soll das Rezept von einem Wassergeist erhalten und den Trank jeden Tag getrunken haben. Sie wurde hundertzwanzig Jahre alt und gebar ihr letztes Kind, als sie weit über sechzig war. Der Trank, eine magische Mischung ausgewählter Kräuter, in der richtigen Phase von Mond und Jahr gepflückt, wirkte auf das Fortpflanzungssystem und belebte Herz, Leber, Haar und Gemüt. Es war der Verkauf unserer kleinen Flaschen mit Goldlotustrank, der uns das Dach über dem Kopf und den Reis in der Schüssel sicherte.
Die Hauptkundinnen meiner Mutter waren die Dirnen, die alle zu ihr kamen, um empfängnisverhütende Salben und Tees zur Wiederherstellung des Monatsflusses, Glückszauber gegen Seemannskrankheiten, stimulierende Mittel für sich selbst und die Freier, Tabletten zur Erhöhung der Ausdauer und Gleitwachs zu kaufen. Meine Mutter deutete ihnen außerdem die Zukunft, sagte ihnen, ob sie schwanger waren, und versorgte sie mit Kräutern und guten Ratschlägen.
Aber sie hatte auch andere Patienten. Da sie nicht länger die hochgestellte Tochter eines Edelmannes war, brauchte sie sich auch nicht mehr nur auf das Einbinden von Füßen und die Geburtshilfe zu beschränken. Jetzt behandelte sie auch die Ladenbesitzer und ihre Frauen, die Fischer, Dockarbeiter, Schmiede, Pfandleiher, Opiumhändler, die Hafenfährmänner, Maurer und Korbflechter und sogar die Bettler, Landstreicher und Diebe. Manchmal suchten sogar auch weiße »Mems« heimlich die Hilfe meiner Mutter, vornehme Damen der Oberschicht, die die gleichen Ratschläge, Arzneien und mitfühlenden Worte brauchten wie die niedrigstehenden Prostituierten.
Indem sie sich selbst zur Ausgestoßenen erklärte, brauchte meine Mutter sich auch nicht länger den Regeln zu unterwerfen, die einst alles, was sie tat, bestimmt hatten. Sie trotzte der Tradition und den Gesetzen unserer Ahnen und band mir nicht die Füße ein. Als ich sechzehn war, wurde das Einbinden ohnehin verboten, und so sah man nur noch ältere Frauen mit trippelnden Schritten durch die Straßen von Singapur humpeln, wie es meine Mutter tat, die sich dabei auf meine Schulter stützte und ging, als überquere sie auf wackligen Trittsteinen einen Bach.
Sie schickte mich in die christliche Missionsschule, wo ich Englisch und westliche Umgangsformen lernte. Jeden Abend, wenn ich in unsere kleine Wohnung über dem Bordell zurückkam, sprach ich Englisch mit meiner
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