Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
sie vielleicht erzählt, was sie wußte. Aber diesem Mann traute sie nicht, vor allem nicht, seit sie wußte, daß er anscheinend ein äußerst freundschaftliches Verhältnis zu Margo hatte.
Sie fühlte Jonathans Arm um ihre Taille, die Wärme seines Körpers, die durch Overall, Rock und Bluse drang. Sie wollte sich an ihn schmiegen, eine Weile in seiner Stärke ausruhen. Aber das hatte sie schon einmal getan, und er war zurückgetreten und hatte sie fallenlassen.
Sie hob den Kopf ein wenig, um zu ihm aufzuschauen, und fast instinktiv drehte er sich um und sah zu ihr hinunter. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, beide konnten sich in die Augen des anderen versenken. Und plötzlich wurde die kleine Abstellkammer zu einem Strudel brennender Leidenschaft und feuriger Erinnerung. Jonathans Arm schloß sich fester um ihren Körper, und in Charlottes Kehle stockte der Atem. Vergessen waren Valerius Knight, die schwarze Tasche auf dem Fußboden, der Computer, die Abfüllanlage, die ganze Welt – alles verschwand, als Jonathan und Charlotte für einen winzigen, elektrisierenden Augenblick zusammenkamen.
Ihre Lippen näherten sich.
Und da fiel die Außentür ins Schloß. Die Magie des Augenblicks verflog. Sie lösten sich voneinander.
»Er ist weg«, sagte Jonathan und riß sein Herz von ihr los, um an den Computer zurückzukehren. Während er die Diskette herausnahm und das Gerät abschaltete, kam Charlotte allmählich wieder zu Atem. Plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas sagen zu müssen, die Stille zu füllen, die ihre alte Leidenschaft hatte entstehen lassen, sie beide in die Wirklichkeit zurückzuführen. »Du hattest einen langen Flug. Bist du nicht müde oder hungrig?«
Er sah zu ihr auf, öffnete den Mund, zögerte und meinte schließlich: »Nein, alles in Ordnung.«
»Ich gehe hinüber in die Kantine. Viele von unseren Mitarbeitern sind noch hier, wenigstens um zu Abend zu essen, bevor sie in dem Gewitter nach Hause fahren. Es gibt Räucherlachssuppe«, fügte sie mit einem schwachen Lächeln hinzu. »Verbessert die Nervenfunktion.«
Ihre Blicke begegneten sich, und auf einmal war sie die alte Charlotte, die wie ihre Großmutter klang.
16
Sie kehrten eilig ins Museum zurück, rannten durch den Wolkenbruch, duckten sich einmal in einen dunklen Eingang, als plötzlich ein Polizist im gelben Regenumhang auftauchte.
Als Jonathan wieder vor dem Computer saß, betrachtete Charlotte seinen breiten Rücken, die Art, wie sich das dunkle Haar über dem Hemdkragen kräuselte. Sie konnte seine Energie fast körperlich spüren, als strahle sie von ihm aus und fülle den Raum. Sie mußte an die Männer denken, mit denen sie im Lauf der Jahre zusammengewesen war: Der Berufssportler, großartig im Bett, aber ein Mensch, der andere manipulierte. Der Werbechef, der niemals fair argumentierte, sondern immer zuerst seinen Standpunkt vortrug und Charlotte dann rasch küßte und sagte: »Wir wollen uns doch nicht streiten«, bevor sie ihre Meinung vertreten konnte. Der Nachrichtensprecher, der so von der Gleichberechtigung der Frau überzeugt war, daß er auch im Auto sitzenblieb, als sie einmal einen Reifen wechseln mußte. Der Wirtschaftsprüfer, der im Restaurant jedesmal den Taschenrechner herauszog und bis auf den letzten Cent das Trinkgeld ausrechnete. Sie hatten alle ihre guten Seiten gehabt, denn meist war es ihr gelungen, liebenswürdige Männer zu finden, die freundlich und humorvoll waren, aber auch ihre Fehler, so wie sie wußte, daß sie selbst Fehler hatte, die diese Männer am Ende vertrieben: Ungeduld, Harmony als absoluter Lebensmittelpunkt, Geheimnisse, die sie nicht offenbaren wollte, Schranken, die sie errichtete. Keinem hatte soviel an ihr gelegen, daß er ihr Wesen ändern oder bei ihr bleiben und die Schranken niederreißen wollte. Ihr größter Fehler aber war, daß sie es sich nicht abgewöhnen konnte, jeden neuen Mann mit Jonathan zu vergleichen.
Es war nicht deshalb, weil Jonathan alle anderen Männer der Welt übertraf. Nein, es lag einzig und allein an der unbestreitbaren Tatsache, daß sie sich in seiner Nähe immer besser fühlte.
Ohne auch nur zu fragen, war er gekommen, um ihr zu helfen.
Charlotte drehte sich um und ging zur Tür, um in das Museum zu schauen. Während Jonathan am Kommunikationsfeld gearbeitet hatte, war sie tiefer in die Familiengeschichte eingetaucht. Sie hatte nicht gewußt, daß die Eltern ihrer Großmutter nicht verheiratet gewesen waren,
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