Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
auf und ab und beobachtete die Tür mit dem darüber angebrachten Überwachungsmonitor. »Das war der Einfluß meiner Großmutter. Inzwischen habe ich all diese Dinge hinter mir gelassen.«
»Eine hundertprozentige Amerikanerin«, bemerkte er mit leiser Ironie.
Er ließ den Blick noch einen Augenblick auf ihr ruhen und wandte sich dann ab. Mit atemberaubender Geschwindigkeit stürzten Erinnerungen auf ihn ein, überschwemmten ihn wie eine jähe Sintflut aus der Vergangenheit. Als er über seine speziellen Kontakte vom dritten Todesfall, verursacht durch ein Harmony-Produkt, erfahren hatte, gab es für ihn nicht das geringste Zögern – er hatte eine Reisetasche gepackt, das Computerwerkzeug, das immer für Notfälle bereitlag, hineingestopft, und sowohl der Haushälterin als auch der Sekretärin mitgeteilt, daß er für ein paar Tage verreisen müßte.
Vom Flugzeug aus hatte er Adele, seine Frau, angerufen und ihr, ohne auf Einzelheiten einzugehen, das gleiche gesagt. Sie hatte die Nachricht mit demselben Gleichmut wie schon die Haushälterin und die Sekretärin aufgenommen. Früher in ihrer Ehe hatten sie sich oft gestritten, weil Jonathan immer wieder ohne Ankündigung verschwand, um streng geheime Aufträge auszuführen. Inzwischen hatte Adele sich daran gewöhnt. »Melde dich, wenn du zurück bist«, hatte sie lediglich gesagt.
Während seines Flugs in die USA hatte er sich noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, was er über Pharmafirmen und ihre speziellen Bedürfnisse bei der Computersicherung wußte, und sogar schon eine auf Harmony zugeschnittene Sicherheitsprofilanalyse entworfen, für den Fall, daß jemand in das dortige System eingedrungen war. Was er sich nicht gestattet hatte, war, an Charlotte zu denken, zuzulassen, daß sich Erinnerungen zwischen Erwägungen über Industriespionage und Verschlüsselungs-Algorhythmen schlichen. Indem er sich auf die Checkliste auf seinem Laptop-Bildschirm konzentrierte, war es ihm gelungen, sie aus seinem Kopf zu verdrängen. Selbst als sie einander heute endlich gegenüberstanden, hatte er sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Er war hier, um seine Arbeit zu tun. Schön, man hatte ihn nicht beauftragt, man bezahlte ihn nicht, es war eher eine Art Gefälligkeit – aber es ging dabei um nichts Persönlicheres als um die Tatsache, daß er und Charlotte einmal Freunde gewesen waren.
»Großmutter regt sich sooo auf!«
Die Stimme von vor dreiundzwanzig Jahren klang so frisch und lebendig, als stehe die sechzehnjährige Charlotte neben ihm im Kontrollraum. »Laß mich in Ruhe«, wollte er dem Phantom sagen, aber statt dessen hörte er seine eigene sechzehnjährige Stimme in dem breiten Hochlanddialekt, den er erst noch abstreifen mußte, fragen »Was ist denn passiert?«.
»Es sind diese neuen Vorwahlnummern! Großmutter hat gerade festgestellt, daß San Francisco 415 hat.«
Sie saßen an Charlottes geheimem Ort, einem Versteck, in das sie sich zurückzogen, wenn sie der Welt entfliehen wollten. Sie hatte ihn zum ersten Mal dorthin mitgenommen, als sie dreizehn waren. Damals hatte er gesehen, wie ihr ein paar Jungen auf der Straße hinterherrannten, ihr »Schlitz-Schlitz-Schlitzauge!« nachriefen und mit Schleudern kleine Steine auf sie schossen. Charlotte hatte Haltung bewahrt und war mit erhobenem Kopf weitergegangen, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten, aber Jonathan hatte sich in eine Kanonenkugel verwandelt und war über die Straße gerannt, um es an Ort und Stelle mit den drei anderen aufzunehmen. Zwei der Jungen hatte er niedergeschlagen, der dritte war geflohen. Jonathan trug eine Platzwunde über einer Augenbraue davon, und Charlotte hatte ihn mit nach Hause genommen, so wie sie es ein paar Wochen zuvor getan hatte, als sie ihm Limonade vorgesetzt und ihm gesagt hatte, daß auch ihre Mutter tot sei. Sie führte ihn in die Küche, wusch seine Wunde aus und zeigte ihm dann ihren ganz privaten Ort, den kein anderer betrat.
Und dort saßen sie dann, drei Jahre später, an jenem Tag im Jahr 1973, und Charlotte erzählte ihm, wie sehr ihre Großmutter sich aufregte, weil San Francisco die Vorwahl 415 bekommen hatte. »Denn die Vier ist für Chinesen die allerunglücklichste Zahl. Sie klingt wie das Wort für ›Tod‹, darum benutzen Chinesen sie niemals. Aii-yah, Großmutter schreibt schon Briefe an unsere Kongreßabgeordneten, Senatoren und sogar an Präsident Nixon!«
Während sie sprach, hatte er nur stumm dagesessen und
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