Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
daß die Großmutter und deren Mutter in Singapur als Ausgestoßene der Gesellschaft gelebt hatten und daß ihr Urgroßvater nie zurückgekehrt war. Ihre Großmutter war mit sechzehn Jahren allein nach Amerika gereist, um ihren Vater zu suchen. Hatte sie ihn gefunden?
Ihre Augen schweiften über die Vitrinen mit den verstaubten Andenken einer vergessenen Geschichte und blieben an einer Puppe hängen, die einen lavendelblauen, seidenen Cheongsam trug, ein körpernahes, knielanges Kleid mit Mandarinstehkragen und Schlitzrock. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es dem jungen Mädchen zumute gewesen sein mußte, das da so ganz allein in einem neuen Land ankam, voller Hoffnung, seinen Vater zu finden.
»Was ist das?« Jonathan deutete auf den Anrufbeantworter neben dem Telefon. »Das Eingangslicht blinkt.«
»Es ist mir gar nicht aufgefallen.« Charlotte drückte auf die Wiedergabetaste. »Der Anruf muß gekommen sein, als wir drüben in der Fabrikation waren.«
Naomis energische Stimme erfüllte das Büro. »Charlie! O Gott, es ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe gerade die Nachrichten gesehen. Sie sprachen nur von dir.«
»O nein«, stöhnte Charlotte und machte sich auf Schlimmes gefaßt.
Aber ihre Befürchtungen wurden noch übertroffen. »Sie zeigen nicht nur dieses gottverdammte Bild«, sagte Naomi mit vor Erregung schriller Stimme. »Sie haben ein Stück aus dem verfluchten Interview gebracht!«
Charlotte blieb das Herz stehen. Das Fernsehinterview von damals, als man sie nach dem Chalk-Hill-Skandal aus dem Gefängnis entlassen hatte, war ihrem Ansehen weit schädlicher gewesen als das Foto mit erhobenen, blutigen Armen. Die Reporterin hatte ihr ein faires Gespräch zugesagt, und es war gut gelaufen. Dann aber hatten sie es zusammengeschnitten und Charlottes Worte so verdreht, daß man sie für eine wahnsinnige Sadistin halten mußte.
»Charlie«, fuhr Naomi hitzig fort, »ich hoffe, du sitzt. Dir steht nämlich ein Schock bevor. Ich meine … wir haben lange nicht mehr über Chalk Hill gesprochen und uns große Mühe gegeben, nicht mehr daran zu denken. Darum habe ich auch, als die Sache letzte Woche in den Nachrichten kam, zuerst keinen Zusammenhang gesehen. Und ich weiß, daß du es ebenfalls vergessen hattest.«
Jonathan sah sie fragend an. »Zusammenhang?«
Sie zuckte mit den Achseln. Sie hatte keine Ahnung, worauf Naomi hinauswollte.
»Sie haben das Interview heute abend doch nicht einfach nur so wiederholt. Irgendein cleveres Kerlchen hat die Verbindung gefunden und es aus den Archiven ausgegraben. Charlie, diese Hexe, die dich damals interviewt und dafür gesorgt hat, daß du wie Lucretia Borgia ausgesehen hast – Charlotte, ist dir klar, daß sie das erste Opfer war? Lieber Gott, Charlie! Sie hat Strahlende-Intelligenz-Balsam benutzt und ist gestorben!«
17
Wir wurden auf eine Insel namens »Angel«, Engel, gebracht, aber dort herrschten Teufel. Ich erfuhr zum ersten Mal vom Ausschlußgesetz, einer unsichtbaren Mauer, die die Chinesen abwehren sollte. Aber ich hatte Glück. Mein Vater war Amerikaner. Noch vor einem Jahr hatten die Ehefrauen und Kinder in Amerika lebender Chinesen einreisen dürfen. Nun gab es ein neues Gesetz, das Einwanderungsgesetz von 1924, das selbst den Familien legal nach Amerika Eingewanderter keinen Zuzug mehr erlaubte. Die Frauen und Babys, die die lange Seereise mit mir gemacht hatten, wurden nach China zurückgeschickt, zurück zu Armut und Krankheit. Sie sahen ihre Ehemänner und Väter nie wieder. Eine junge Frau erhängte sich im Brautkleid, weil man den Mann, den sie liebte, einreisen ließ und sie abwies.
Die Baracken auf Angel Island waren aus rohem Holz errichtet. Durch die vergitterten Fenster konnten wir die Stadt San Francisco sehen. Wir blieben Tag und Nacht eingesperrt. Manche Frauen schrieben Gedichte voll von Qual an die Wände. Ich wußte nicht, warum man uns in ein Gefängnis steckte. Man hatte uns vom Schiff geholt und auf die Insel gebracht, wo wir nun warteten – unerwünschte Chinesinnen, die die richtigen Papiere hatten und sich nach der Stadt jenseits des Wassers sehnten.
Ich wartete zweiundvierzig Tage. Jeden Morgen verließen Frauen, mit denen ich mich angefreundet hatte, die Baracken. Manche kamen wieder und erzählten uns von ihrer Befragung. Andere kamen nicht wieder. Ich weiß nicht, ob sie in die Stadt gelangten oder ob man sie nach China zurückschickte. Als ich an der Reihe war, fragte man mich nur nach Namen, Adresse
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