Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
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Ich fügte mir selbst eine Brandwunde zu. Ich schlief ohne Kopfkissen, damit mein Hals schmerzte. Ich ließ mich im Golden-Gate-Park von den Mücken stechen. Dann trug ich meinen Balsam auf und stellte fest, wann er wirkte und wann nicht. Ich erhöhte die Dosierung des einen und verminderte die eines anderen Stoffes. Als ich Ausschlag bekam, rührte ich einen Topf mit neuem Balsam an und ließ dabei das Jimsonkraut weg, das zur örtlichen Betäubung dient. Das nächste Mal bekam ich keinen Ausschlag. Schließlich, nach vielen Selbstversuchen, linderte der neue Balsam Verbrennungen, minderte Juckreiz und besänftigte Schmerzen. Ich dachte, ich hätte die vollkommene Medizin gefunden.
Und dann kam Mrs. Po und erklärte mir, jemand anderes brauche mein Zimmer, jemand mit Geld. Ich müsse ausziehen. Ich flehte sie an. Ich sagte, ich hätte eine neue Medizin entwickelt, die ich auf der Straße verkaufen würde. »Zwei Tage«, antwortete sie nur und hielt zwei rissige Finger hoch.
Nie im Leben hatte ich solchen Hunger gekannt.
Selbst in unserer schlimmsten Zeit in Singapur, als meine Mutter keine Patienten hatte und keinen Wein verkaufen konnte, weil es ihr an Geld fehlte, um die Zutaten dafür zu beschaffen – selbst damals war ich nie so hungrig gewesen wie in diesen dunklen Tagen in Chinatown.
Während ich mich mit meinem Korb durch die Menge auf der Grant Avenue schleppte und meine Waren ausrief, versuchte ich, nicht auf die Speisen in den Auslagen zu schauen, denn beim Anblick saftiger Pekingenten und im Ganzen gedünsteter Fische lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich atmete nicht durch die Nase, um die Düfte von gebratenen Garnelen und knusprigen, mit Reis gefüllten Hühnern nicht zu riechen. Ich bemühte mich, nicht hinzuschauen, wenn ein Kind die Zähne im hellroten Fleisch einer frischen Wassermelone versenkte, eine ältere Frau Sonnenblumenkerne in den Mund stopfte und dezent die Schalen ausspuckte oder ein Mann im Büroanzug an einem Eßstand dampfende Nudeln verschlang.
Ich durfte nicht an Essen denken …
Schließlich mußte ich an einer Ecke stehenbleiben. Mein Korb war auf einmal bleischwer und mein Kopf federleicht. Als ich eine Hand auf meinem Arm spürte, schrie ich auf.
Ich fuhr herum und sah in ein Paar graue Augen, die mich seit einem Jahr verfolgten.
»Warten Sie«, sagte Gideon Barclay. »Laufen Sie nicht weg. Bitte! Ich werde Ihnen nichts tun.«
Ich hätte nicht fortlaufen können, selbst wenn ich es gewollt hätte, denn ich war wie bezaubert. Er trug einen schönen blauen Blazer und weiße Hosen. Als er den Hut abnahm, fing sich die Sonne in seinem braunen Haar und küßte kastanienrote und goldene Strähnen hinein.
»Ich suche Sie schon seit dem Tag im Juwelierladen. Waren Sie es, die bei uns zu Hause angerufen hat?«
Ich nickte.
»Warum?«
»Ich suche meinen Vater.«
»Oh. Nun, das läßt sich leicht arrangieren. Geben Sie mir seinen Namen, und wenn ich nach Hause komme, erkundige ich mich bei der Personalabteilung. Obwohl ich mich nicht erinnern könnte, daß wir viele Chinesen beschäftigen …«
»Richard Barclay«, sagte ich. Die Menschen strömten an uns vorbei wie ein Fluß um eine Insel.
Gideon starrte mich an. »Was sagen Sie?«
»Mein Vater ist Richard Barclay. Ich habe seinen Ring als Beweis.«
»Ja, gewiß, der Juwelier hat ihn erkannt. Er konnte sich nicht irren, weil meine Mutter den Ring für meinen Vater dort anfertigen ließ. Aber … woher haben Sie ihn? Mein Vater trug ihn, als er starb.«
»Als er starb? Richard Barclay ist tot?«
»Er ist vor siebzehn Jahren auf See gestorben, bei der Rückreise von Singapur.«
»Aii-yah!« kreischte ich, und Gideon mußte mich stützen und mir vom Bürgersteig forthelfen, heraus aus der Menge. »Tot!« schrie ich auf chinesisch. »Nach so vielen Jahren! Mein Vater ist tot!«
Er führte mich in einen Hauseingang zwischen zwei Läden. Eine Treppe führte zu Büros und Wohnungen in den oberen Stockwerken. Der Eingang war eine Zuflucht, dunkel und still. Ein guter Ort um zu weinen.
»Also worum geht es hier eigentlich?« fragte Gideon ein paar Minuten später und sah zu, wie ich mir mit dem Taschentuch, das er mir gereicht hatte, die Augen trocknete.
Ich erzählte ihm alles, und als ich fertig war, schüttelte er verblüfft den Kopf. »Wir hatten tatsächlich eine Zeitlang den Kontakt zu meinem Vater verloren. Er reiste geschäftlich nach Singapur, und wir hörten mehrere Wochen lang überhaupt nichts
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