Das Haus Der Schwestern
dich zu deinem Vater ...«
Eine gewaltige Detonation nicht weit von ihnen riß ihr die letzten Worte aus dem Mund und trug sie davon. Vom Lazarett gellten Schreie herüber, alle hatten sich erschrocken, denn noch nie zuvor hatte die Erde so stark gebebt. George war nicht einmal zusammengezuckt. Er starrte zu einem knorrigen Ahornbaum hinüber und schien durch ihn hindurchzublicken.
Frances, die noch immer im Gras gesessen hatte, stand entschlossen auf, strich mit beiden Händen über ihren zerknitterten Rock und sagte: »In einem Punkt hast du jedenfalls recht, Alice: Er muß von hier weg. Hier kann er ja nur versinken in Depressionen. Du brichst morgen mit ihm nach England auf, und ich hoffe nur, du triffst dort eine Entscheidung in seinem Interesse.«
Alice starrte sie an. "Ja — kommst du denn nicht mit uns?«
»Ich bleibe noch eine Weile hier. Ich habe noch etwas zu erledigen. «
Um weiteren Fragen zu entgehen, lief Frances rasch davon, hörte noch Alice rufen: »Was, um Himmels willen, hast du hier zu erledigen?«, kümmerte sich aber nicht darum. Sie betrat die Scheune, ignorierte den Gestank und das Geschrei, hielt nur Ausschau nach der Oberschwester, um sie zu fragen, ob sie noch ein paar Tage bleiben und freiwillig helfen dürfe.
Fünfzehn Minuten später erfuhr sie, daß John von einem Kundschaftergang nicht zurückgekehrt war und seit einer Woche als vermißt galt.
Sie sah John Ende Oktober wieder, in einem Krankenhaus an der Atlantikküste, in das man ihn zur Erholung verlegt hatte. Es hatte sich gelohnt für Frances, daß sie jedem Soldaten, jeder Schwester, jedem Arzt von John erzählt hatte, denn so war sie schließlich tatsächlich an die Information gelangt, die sie brauchte. Der Junge aus Northumberland, der die sterbenden Pferde nicht vergessen konnte, hatte sie an jenem Tag, an dem sie das lange, deprimierende Gespräch mit George gehabt hatte, aufgeregt zu sich gewinkt.
»Hier ist eine neue Schwester! Sie kennt diesen John Leigh, Ihren Verlobten! «
Seine Augen hatten geglänzt. Er vergötterte Frances, weil sie ihn wegen der Pferde verstand, und ihre Sorge um den »Verlobten« hatte ihn immer bekümmert. Noch eifriger als alle anderen hatte er stets versucht, etwas für sie herauszufinden.
»Oh, Pete, wirklich? Wo ist sie? Wer ist sie?«
Er zeigte ihr die neue Schwester, eine kleine dunkelhaarige Person, sehr jung und offensichtlich sehr tüchtig um die Patienten bemüht. Frances ging sofort zu ihr und erhielt die Nachricht, daß John vermißt wurde; Pete hatte nichts davon gewußt und war später entsetzt, daß nun ausgerechnet er der netten Frances Gray neuen Kummer zugefügt hatte.
Die junge Frau war mit dem Offizier verheiratet, der John auf den Patrouillengang geschickt hatte. Zusammen mit einem anderen jungen Soldaten war er spätabends losgezogen und nicht zurückgekehrt. Möglicherweise hatten sie sich zu weit hinter die Linien der Deutschen gewagt, zumal diese am darauffolgenden Morgen einen Vorstoß unternommen und zwei Kilometer Land gewonnen hatten.
Die junge Frau hieß Diane Wilson. Sie versuchte Frances zu trösten und sagte, es sei keineswegs sicher, daß die beiden tot seien.
»Aber wenn sie bei den Deutschen sind und ...«
»Die Deutschen metzeln auch nicht gleich jeden nieder. Sie nehmen sie gefangen. Aber das ist kein Todesurteil.«
In Frances’ Augen handelte es sich bei den Deutschen — gemäß britischer Propaganda —um ein Volk von Barbaren, und sie war keineswegs sicher, daß Gefangenschaft und Hinrichtung nicht gleichzusetzen waren.
»Vielleicht«, sagte Diane, »können sie sich aber auch vor den Deutschen verstecken und sich wieder bis zu den eigenen Leuten durchschlagen.«
»Ich muß sofort dorthin!« rief Frances.
Diane hielt sie am Arm fest. »Ich verstehe ja Ihre Aufregung, Miss Gray. Aber so einfach können Sie als Zivilperson hier nicht in der Gegend herumreisen. Außerdem: wohin wollen Sie?«
»Dorthin, von wo aus er losgezogen ist.«
»Sie wissen doch gar nicht, ob er genau dort wieder auftaucht. Bleiben Sie hier. Mein Mann ist John Leighs Vorgesetzter, er wird es in jedem Fall erfahren, wenn John zurückkehrt. Ich werde ihm sagen, daß er mich sofort informieren muß. In Ordnung?«
Frances sah ein, daß dies die vernünftigste Lösung war. Sie nickte und wollte sich zum Gehen wenden, da sagte Diane mit scharfer Stimme: »Miss Gray?«
»Ja?«
»Der junge Soldat, der mir Ihre Geschichte erzählte, sagte, Sie seien die Verlobte von
Weitere Kostenlose Bücher