Das Haus Der Schwestern
froh sein konnte, wenn man überhaupt einen Platz fand, wo ein Verletzter abgelegt werden konnte; und wenn die Decke dort noch getränkt war vom Blut des Vorgängers — wen sollte das kümmern?
Irgendwann ging es nur noch darum, jeden Tag möglichst ein paar Männer mehr durchzubringen, als zu verlieren, ganz gleich, auf welche Weise.
In das Krankenhaus bei Le Havre kamen die Soldaten nach ihrem ersten Durchgang durch die Feldlazarette —gesäubert und zumindest notdürftig zusammengeflickt. Das ehemalige Privatsanatorium für begüterte Franzosen lag in einem großen Park voller Büsche und Bäume und sauber geharkter Kieswege, die sich zwischen kleinen Goldfischteichen entlangschlängelten und von grün gestrichenen Bänken gesäumt wurden. Hier war man weit genug entfernt vom Kampfgeschehen, nichts störte die friedliche Stille. Die Bäume verloren gerade ihr buntes Laub, raschelnde Blätterteppiche breiteten sich auf den gepflegten Wiesen aus. Die hellgelb gestrichenen Wände des Villengebäudes, das sonst ganz versteckt lag, schimmerten nun schon zwischen den kahler werdenden Ästen hervor.
Innen huschten blütenweiß gekleidete Schwestern und Pfleger auf den Gängen herum, und manchmal hätte man tatsächlich glauben können, es gebe nirgendwo einen Krieg, der schon Abertausende Opfer gefordert hatte; doch auf den Fluren schlenderten keine schwindsüchtigen Damen wie in früheren Zeiten, jetzt sah man hier nur Uniformen: Soldaten in Rollstühlen oder auf Krücken, mit Verbänden um den Kopf oder Armschlingen um den Hals, mit Augenklappen oder mit durch Giftgas entstellten Gesichtern. Scharen von Männern, mehr oder weniger schwer versehrt am Körper, fast alle aber zutiefst verwundet in ihrem Gemüt. Ihre Augen verrieten, wie es in ihrem Innern aussah: verwüstet und ausgebrannt.
Frances erschrak, als sie John zum ersten Mal sah. Er war immer ein großer, kräftiger Mann gewesen, dem man die robuste Gesundheit, die gute Kondition ansah. Krankheit war ein Begriff, den Frances mit ihm nie hatte in Verbindung bringen können. Krank war er nun auch eigentlich nicht. Aber die Strapazen hatten ihn weit mehr gezeichnet, als es sich Frances ausgemalt hatte. Er war völlig abgemagert, seine Uniform schlotterte an ihm, seine Augen lagen tief in den Höhlen, seine Wangenknochen stachen spitz unter der pergamentähnlichen Haut hervor.
Wie ein alter Mann, dachte Frances, um Jahrzehnte älter als früher!
Er hatte ein eigenes Zimmer, ein gemütliches Kämmerchen gleich unter dem Dach. Als Frances eintraf, saß er am Fenster und starrte hinaus. Draußen stand eine wunderschöne Kastanie, die gerade ihre Blätter verlor, und John verfolgte jedes einzelne, langsam zur Erde segelnde Blatt mit seinen Blicken.
Er wandte sich nicht um, als Frances eintrat, aber er erriet, wer da kam, denn er sagte spöttisch: »Ah — meine Verlobte!«
Sie war bei dieser Version geblieben, weil sie nicht sicher gewesen war, ob man sie sonst zu ihm gelassen hätte.
»Er ist noch sehr schwach«, hatte die Leiterin des Sanatoriums gesagt und Frances dabei streng angeblickt. »Eigentlich dürfte er noch gar keinen Besuch empfangen.«
»Ich bin aus England herübergekommen. Ich habe wochenlang in einem Feldlazarett gearbeitet, um hierbleiben zu können. Ich muß ihn sehen.«
»Hm. Sie sagen, Sie sind mit ihm verlobt? In diesem Fall... werde ich eine Ausnahme machen.«
Nun, bei ihm im Zimmer, dachte Frances, daß sie vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Am Ende war er verärgert.
Leise sagte sie: »Tut mir leid, daß ich schwindeln mußte. Sie hätten mich sonst nicht zu dir gelassen.«
»Und war das so wichtig? Mußtest du unbedingt zu mir?« Jetzt drehte er sich mit einer ruckartigen Bewegung um. Dabei erst bemerkte Frances, daß er im Rollstuhl saß.
»Bist du verletzt?« fragte sie.
»Nein. Nur etwas schwach. Im Grunde brauche ich das Ding nicht mehr.«
»Ich wollte dich sehen, weil ich dir manches erklären muß.«
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Du mußt mir überhaupt nichts erklären. Wenn du den weiten Weg gemacht hast, nur um Erklärungen abzugeben — vergiß es! Wie hast du überhaupt herausgefunden, wo ich bin?«
»Ich habe es eben herausgefunden. In dem Lazarett, in dem ich gearbeitet habe, kannte dich jemand.«
»Sieh an! Frances Gray in einem Feldlazarett! Wie hat es dich denn ausgerechnet dorthin verschlagen?«
Frances merkte, daß Ärger in ihr aufstieg. Wozu dieser Zynismus ? Mit welchem Recht hackte
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