Das Haus Der Schwestern
mitschleppen, weil er sofort zu schreien begann. Mir blieb nur die Hoffnung, daß die Deutschen, wenn sie ihn fanden, nicht auf ein neunzehnjähriges Kind schießen würden.«
»Das haben sie sicher auch nicht getan. Sie werden ihn gefangen genommen haben.«
John spielte mit seinen Händen. Seine Finger verknoteten sich ineinander. »Vielleicht. Vielleicht ist er aber doch noch losgelaufen und auf eine Mine getreten oder erschossen worden. Ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist: Ich hätte nicht ohne ihn fortgehen dürfen.«
»Aber ...«
»Ohne Wenn und Aber. Ich hätte es nicht tun dürfen. Natürlich machte mich die Vorstellung fast närrisch, mich dorthinzusetzen und auf die Deutschen zu warten. Aber ich hätte trotzdem nicht gehen dürfen. Ich war der Ranghöhere und der Ältere. Und Simon war am Ende. Ihn dort sitzen zu lassen ...« Er schüttelte verzweifelt den Kopf, starrte zum Fenster hin.
Frances kramte in ihrer Handtasche. »Möchtest du eine Zigarette? «
Zum ersten Mal entspannten sich seine Züge. »Wenn du eine hast — gern.«
Frances hatte von einigen Männern im Lazarett zum Abschied Zigaretten geschenkt bekommen und sie wie einen Schatz gehütet. Nun rauchten sie und John gemeinsam, schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Schließlich erzählte Frances von George und davon, wie Alice darum gekämpft hatte, ihn mit nach London nehmen zu dürfen.
»Jahrelang ließ sie ihn bitten und betteln. Jetzt plötzlich fängt sie an, hinter ihm herzulaufen.«
John lächelte. Frances errötete und stand hastig auf. »Du denkst gerade, es sei wie bei uns, nicht? Daß ich angefangen habe, hinter dir her zu sein, nachdem du meine Schwester geheiratet hattest. Ich habe dich vorher nicht warten lassen, weil ich mit dir spielen wollte, John. Ich habe es damals schon gesagt: Ich brauchte diese Zeit in London. Es ging nicht anders.«
Das Lächeln wich aus Johns Zügen, er sah auch nicht länger entspannt aus. »Laß doch endlich diese alten Geschichten«, sagte er ärgerlich, »wen interessiert das alles noch? Es ist so lange her... eine andere Zeit, ein anderes Leben. Die Dinge sind, wie sie sind, wir ändern nichts mehr daran, indem wir ständig darüber sprechen.«
Wie bei George, dachte Frances, man erreicht ihn nicht mehr. Er hat sich in sich zurückgezogen. Er lebt inmitten der Bilder, die er nicht vergessen kann, und jenseits davon interessiert ihn nichts.
Mit einer Sanftmut, die sonst nicht ihre Sache war, fragte sie: »Solange du hier bist — würde es dich stören, wenn ich auch bliebe? Ich könnte ein Zimmer mieten im Dorf, und ...«
Er zuckte mit den Schultern. »Du kannst tun, was du möchtest.«
Jetzt erwachte Zorn in ihr, trotz allem. Er hatte eine schwere Zeit gehabt, gut, aber die hatte sie auch gehabt. Sie verstand, daß er deprimiert war, abwechselnd aggressiv und in sich gekehrt, aber diese verletzende Gleichgültigkeit würde sie nicht leidend und schweigend hinnehmen.
In einer leeren Kaffeetasse, die auf dem Tisch stand, drückte sie ihre Zigarette aus.
»In Ordnung«, sagte sie kalt, »ich habe begriffen. Weißt du, den November in irgendeinem gottverlassenen Nest an der französischen Kanalküste zu verbringen, war ohnehin nie mein Traum. Ich finde sicher recht schnell eine Möglichkeit, von Le Havre aus nach England zurückzukehren.«
Als sie die Hand schon auf der Türklinke liegen hatte, vernahm sie Johns Stimme.
»Bleib«, sagte er. Es klang scharf und schneidend wie ein Befehl. Offenbar hatte auch er das bemerkt, denn während sich Frances langsam umdrehte, setzte er leise hinzu: »Bitte!«
Sie sah die Trostlosigkeit in seinen Augen, das Grauen, das sie inzwischen aus hundert anderen Gesichtern nur zu gut kannte. Er erinnerte sie an ein verwundetes Tier, gereizt und voller Angst zugleich. Er würde nach jeder Hand beißen, die sich ihm entgegenstreckte, und zugleich gierig auf diese Hand warten.
Sie überlegte manchmal, wie sie diese Novemberwochen in dem kleinen nordfranzösischen Dorf bei Le Havre beschrieben hätte, hätte sie ein Tagebuch geführt — was nicht mehr der Fall war, denn sie verfügte über ein Elefantengedächtnis, und es wäre überflüssig gewesen, die Dinge zusätzlich schriftlich festzuhalten.
Über die Tage von St. Ladune hätte sie gesagt, daß sie voller Regen waren und oft sturmdurchtost, dann wieder neblig und still, die lastende Ruhe nur unterbrochen von den Schreien der Möwen irgendwo aus dem undurchdringlichen Grau
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