Das Haus Der Schwestern
heraus. Wenn der Wind auflebte, kalt und kraftvoll vom Meer her ins Land wehte, zerrissen die Schwaden, und manchmal brach sogar eine blasse Novembersonne zwischen den Wolken hindurch; sie vermochte nicht zu wärmen, aber sie ließ die Feuchtigkeit ringsum für Momente erglänzen, ehe sie sich wieder hinter jagenden, dunkelgrauen Wolkenbänken verbarg. Wenn der Regen einsetzte, so geschah das jäh und unvermittelt, und in ihrer Kälte fühlten sich die Tropfen wie Nadelstiche auf der Haut an.
Man mußte etwa zwanzig Minuten laufen, um vom Dorf zum Strand zu gelangen. Hier gab es ein paar Holzhäuschen, in denen im Sommer und in besseren Zeiten Süßigkeiten und Kaffee verkauft wurden, und es gab einen weißen Pavillon in den Dünen, in dem wohl Musik gespielt wurde, wenn die Kurgäste hier entlangpromenierten: Damen in schönen Kleidern mit großen Hüten und spitzenbesetzten Schirmchen zum Schutz gegen die Sonne, Herren mit blankgeputzten Schuhen, als Konzession an Meer und Sand vielleicht das Jackett lässig über die Schultern gehängt und die Hemdsärmel hochgekrempelt.
Jetzt waren die kleinen Hütten verrammelt und verriegelt, im Pavillon suchten nur ein paar Möwen Schutz vor dem Sturm, und der Strand lag menschenleer und verlassen, übersät nur von Algen, Schlick, Hölzern und allem möglichen Unrat, den das Meer mitbrachte und dort ablud.
Zu den Tagen von St. Ladune gehörte auch das winzige Kämmerchen, das Frances im Dorf bewohnte, bei einer Pensionswirtin, die sonst nur im Sommer vermietete, nun aber froh war, einen unerwarteten Gast für den Spätherbst gefunden zu haben. Weißlackierte Dielenbretter bedeckten den Fußboden; es gab ein breites, gemütliches Bett mit dicken Federkissen, einen Schrank, der säuberlich mit geblümtem Papier ausgelegt war und schwach nach Lavendel duftete, was wie ein freundlicher Gruß von Großmutter Kate anmutete, und einen Waschtisch mit einer porzellanenen Schüssel und einem Krug voll kaltem Wasser. Auf dem Fensterbrett lag eine gelbgetönte Muschel, aus deren Innerem feiner, weißer Sand gerieselt kam, als Frances sie hochnahm. Solche Muscheln hatte sie als Kind in Scarborough gesammelt, wenn sie mit ihrer Familie in das Seebad an der Ostküste Yorkshires gereist war. Die Muschel kam ihr vor wie etwas, das sie aus einer anderen Zeit herüber anlächelte.
Frances hätte auch keineswegs Madame Véronique unerwähnt gelassen, die Wirtin. Sie war Witwe, jedoch erst seit knapp zwei Jahren, und ihrem verstorbenen Mann weinte sie keine Träne nach, wie sie Frances anvertraute. Sie war eine hübsche, schlanke Frau mit feiner, weißer Haut und Augen schwarz wie Kohlestücke. Sie erlaubte Frances, sich im ganzen Haus ungehindert zu bewegen.
»Verkriechen Sie sich bloß nicht da oben in dem kleinen Zimmer«, sagte sie, »kommen Sie herunter zu mir und machen Sie es sich am Kamin gemütlich. Mich stören Sie nicht. Ich bin oft genug allein.«
Das Beste an Véronique war, daß sie über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Whisky und Zigaretten verfügte. Es handelte sich nicht um irgendeinen Whisky, sondern um echten Scotch. Es mußte da irgendeine dunkle Geschichte geben, denn Véronique hüllte sich in Schweigen, wenn es um ihre im Keller gehorteten Schätze ging. Eine Affäre mit einem Schotten? Gemeinsame Sache mit Schmugglern? Es war Véronique anzusehen, daß es Untiefen in ihrem Leben gab, aber sie verriet nichts davon. Doch was sie hatte, teilte sie großzügig mit Frances.
St. Ladune: stundenlange Spaziergänge am Strand, nur John und Frances, meist schweigend, verbissen Regen und Kälte trotzend. Oft waren sie naß bis auf die Haut, wenn sie ins Dorf zurückkehrten, und kalt bis in die Knochen. John gewann seine körperliche Robustheit langsam zurück; wie es in seinem Innern aussah, vermochte Frances nicht zu sagen.
Manchmal, wenn sie in einer windgeschützten Senke zwischen den Dünen kauerten, um sich auszuruhen, ehe die Kälte sie wieder auf die Beine jagte, fragte sie: »Woran denkst du gerade?«
Meist antwortete er: »An nichts.«
Seine Augen, in denen sie früher hatte lesen können wie in einem offenen Buch, blieben verschlossen.
Die Engländer stellten ihre Angriffe auf die deutschen Stellungen an der Somme ein; die Schlacht hatte Hunderttausende von Opfern gefordert, aber nichts eingebracht. Premier Asquith sprach sich gegen einen »unehrenhaften Kompromißfrieden« aus, aber in England begannen die Arbeiter auf die Straße zu gehen und für
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