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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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verärgern.
    Hinter dem Mann tauchte ein Hund auf. Er war zweifellos recht alt, hatte eine eisgraue Nase, und die bläulich-weiß überschatteten Pupillen in seinen Augen verrieten, daß er kaum noch etwas sehen konnte. Aber er wußte, wer dort kam, und wedelte würdevoll und gemessen mit dem Schwanz.
    »Guten Tag, George«, sagte Frances. Sie trug ein helles Sommerkleid und einen Strohhut auf dem Kopf. Das Kleid war bedruckt mit blauen Blumen, die ihren Augen etwas Wärme und Farbe gaben.
    »Wir sind später dran, als wir dachten, tut mir leid. Wir hatten eine Reifenpanne, gleich hinter Scarborough. Zum Glück kamen schließlich zwei junge Burschen vorbei, die uns helfen konnten.«
    »Ich hatte sowieso die Zeit vergessen«, sagte George. Er nahm den Korb und stellte ihn neben sich auf die Erde. »Der wird immer schwerer«, stellte er fest.
    Alice strich sich das feuchtverklebte Haar aus der Stirn. »O Gott, ist das heiß heute! Nicht einmal hier oben bei dir geht ein Windhauch. Hast du etwas zu trinken für uns?«
    »Wartet«, sagte George und verschwand im Haus. Alice kauerte sich ins Gras, den Rücken an den Stamm des Apfelbaums gelehnt. Sie sah müde und blaß aus. Auf ihrem Gesicht glänzte Schweiß.
    »Ich dachte, wir kommen überhaupt nicht mehr von dieser Landstraße weg«, murmelte sie.
    Frances sah Alice mit einer Mischung aus Gereiztheit und Mitleid an. Alice jammerte oft. Es war ihr zu heiß oder zu kalt, zu stürmisch oder zu drückend, zu dunkel oder zu hell. Sie litt auch ständig unter diffusen Krankheiten, die weder sie noch sonst jemand richtig einordnen konnte. Oft klagte sie über Magenschmerzen, dann wieder waren es Herzstiche oder Migräne. Immer wenn Frances an die robuste, energische Frau dachte, die sie neun Jahre zuvor kennengelernt hatte, konnte sie es kaum fassen. Sie wußte, daß die Gefäng-nisaufenthalte aus Alice eine kranke Frau gemacht hatten. Den Rest hatte das Auseinanderbrechen der Frauenbewegung besorgt, das Miterleben-Müssen, wie eine Idee von den Geschehnissen der Zeit überrollt wurde und plötzlich im Sande verlief.
    Daß den Frauen nach Kriegsende das Wahlrecht zuerkannt worden war, hatte Alice nicht mehr freuen können; da war sie schon zu verbittert gewesen. Die Einschränkung, die Frauen erst ab dem Alter von dreißig Jahren als Wählerinnen zuließ, hätte sie auf die Barrikaden treiben müssen. Statt dessen nahm sie es mit erschöpfter Resignation hin.
    Es bekommt ihr einfach nicht, daß sie nicht mehr in London lebt, dachte Frances, sie ist Londonerin mit Leib und Seele. Das Leben hier oben macht sie immer depressiver.
    Seit eineinhalb Jahren folgten die Sonntage nun schon der immer gleichen Routine: Frances setzte sich in ihr Auto, fuhr quer durch die ganze Grafschaft bis nach Scarborough an der Ostküste, packte Alice ein, die dort in einem schäbigen Hotel wohnte und stets schon bereitstand, in einem ihrer altmodischen, knöchellangen Kleider, mit weißem Gesicht, auf den Lippen die vielen Klagen über all die Widrigkeiten, mit denen sie hier zu kämpfen hatte: zuallererst ihre Gesundheit, aber auch die Leute im Hotel mit ihrer Neugier und Feindseligkeit, und das dauernde Geldproblem ... Und dann war das Bett zu hart, niemand konnte hier ein anständiges Brot backen, und der Dialekt war eine Zumutung.
    Frances hielt sich manchmal nur mühsam zurück, sie anzufahren, sie solle einmal den Mund halten oder etwas Angenehmes berichten. Dann wieder dachte sie, daß es kein Wunder war: Jeder müßte verrückt werden bei dem Leben, das Alice führte. Sie saß in diesem furchtbaren Hotel in einer Küstenstadt, die sie nicht mochte, in einem Landstrich Englands, zu dem sie keinen Bezug hatte, dessen Klima sie haßte. Von morgens bis abends hatte sie nichts zu tun. Sie verbrauchte den letzten Rest ihrer Erbschaft für ihr Zimmer und eine kärgliche Mahlzeit am Tag. Sie hatte zu niemandem Kontakt gefunden. In ihrer rigorosen, unverbindlichen Art verachtete sie jede Frau, die nicht am »Kampf« teilgenommen hatte, und in Scarborough ließ sich keine auftreiben, die mitgezogen war. Sie las bergeweise Bücher, die sie sich aus einer Leihbibliothek besorgte. In dem Hotel fiel häufiger der Strom aus, dann saß Alice während der langen dunklen Wintermonate beim Schein einer Kerze herum und überanstrengte ihre Augen. Im Sommer wurde das Leben einfacher, aber nicht ereignisreicher.
    Die Frau, die Diskussionen geliebt hatte, die eine leidenschaftliche, kompromißlose Kämpferin

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