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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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gewesen war, sprach nun tagelang mit niemandem ein Wort und lebte ein Dasein, das ihr nicht im mindesten entsprach.
    Und das alles seit dem Januar 1918, als sich George nach Staintondale am Fuße der North York Moores in die völlige Einsamkeit zurückgezogen hatte.

    George trat wieder vor die Tür, in jeder Hand einen Becher mit Wasser. Er reichte einen an Frances weiter, den anderen an Alice. »Hier. Ihr könnt natürlich noch mehr haben.«
    Beide Frauen tranken durstig.
    »Bei diesem Wetter ist es wirklich schön hier«, sagte Frances dann. Sie blickte über das Meer. Von hier oben sah es friedlich und glatt aus, aber sie wußte, daß es sich heftig an der Steilküste brach.
    »Immer wenn ich hier bin, muß ich an unsere Badeferien früher in Scarborough denken. Weißt du noch?«
    »Ja«, sagte George, weder glücklich noch wehmütig. Sein Zustand hatte sich seit dem Kriegssommer von 1916 insofern gebessert, als er immerhin wieder in der Lage war, Gespräche zu führen. Zwar blieb er einsilbig und gab von sich aus nie einen Anstoß, aber er antwortete, wenn er etwas gefragt wurde, und versank nicht mehr in dem uferlosen Schweigen, mit dem er anfangs jeden Versuch zunichte gemacht hatte, sich ihm zu nähern.
    Seine Gleichgültigkeit jedoch war geblieben. Der Panzer, der ihn abschirmte gegen die Welt, hatte Risse bekommen, war aber nicht zerbrochen. Das einzige Wesen, das echte Gefühlsregungen in ihm wachrief, war die alte Hündin Molly. Wer ihm zusah, wenn er sie streichelte und leise mit ihr sprach, fand etwas wieder von der Kraft und Zärtlichkeit, die einmal zu diesem jungen Mann gehört hatten. Denn das war er noch immer: ein junger Mann. Er war keine dreißig Jahre alt.
    »Vater scheint es jetzt übrigens endlich besser zu gehen«, fuhr Frances fort, »er hat an innerem Gleichgewicht gewonnen. Das warme Wetter tut ihm gut.«
    »Das höre ich gern«, sagte George höflich. »Möchtest du noch Wasser?«
    »Danke. Jetzt nicht mehr.« Sie sah, daß sein Blick auf ihren sonnenverbrannten, rissig-rauhen Händen ruhte, und errötete leicht. »Ich hatte mal schönere Hände, ich weiß. Aber die viele Arbeit ... Wenn ich nicht mit anpacke, können wir die Farm nicht halten.«
    »Oh... ich habe deine Hände gar nicht gesehen«, sagte George zerstreut. »Was hast du gerade gemeint?«
    »Nichts. Schon gut.«
    »Was machen deine Bilder, George?« ließ sich Alice vernehmen.
    George zuckte mit den Schultern. »Das Licht ist jetzt tagsüber zu grell. Ungünstig.«
    »Aber du malst noch?«
    »Ja.«
    »Hast du etwas verkauft in der letzten Zeit?« fragte Frances.
    George schüttelte den Kopf. »Schon länger nicht mehr.«
    Das schien ihm nichts auszumachen. Frances wußte, daß er sich auch keineswegs bemühte, seine Bilder zu verkaufen oder überhaupt irgend jemanden darauf aufmerksam zu machen.
    Manchmal fand trotzdem der eine oder andere Interessent den Weg in sein Cottage draußen in der Einsamkeit, auf dieser kahlen, weiten Fläche hoch über dem Meer. In den Dörfern an der Ostküste hatte es sich herumgesprochen, daß es da einen Einsiedler gab, der Bilder malte.
    »Er ist nicht ganz richtig im Kopf«, sagten die Leute, wenn sie von ihm erzählten, und tippten sich dabei bedeutungsvoll mit dem Finger an die Stirn,» aber harmlos. Der Krieg hat ihn fertiggemacht, den armen Kerl. Jetzt redet er nur noch mit seinem Hund und malt komische Bilder.«
    Frances hatte zwei-oder dreimal Sätze dieser Art aufgeschnappt und jedesmal das Gefühl gehabt, etwas schneide ihr ins Herz. Ihr Bruder George war es doch, über den sie so redeten, George, der seine Schwestern getröstet hatte, wenn sie weinten, der ihnen ihre Puppen repariert und sie zu Gartenfesten und Bällen begleitet hatte. George, der Eton mit glänzenden Noten abgeschlossen hatte.
    Und nun... Ein junger Mann sah sie mit uralten Augen an. Nie konnte sie seinem Blick begegnen, ohne sich bewußt zu werden, daß das Leben nichts von seinen Versprechungen gehalten hatte. Aber vielleicht hatte es gar nichts versprochen. Aus der Sorglosigkeit, in der die Familie so viele Jahre lang gelebt hatte, hatte Frances abgeleitet, daß es auf eine gleichmäßige, unabänderliche Weise immer so sein mußte. Heute wußte sie: Was sie als Sicherheit angesehen hatte, war nie eine gewesen. Es gab überhaupt keine Sicherheit, so einfach war das. Alles konnte in sich zusammenstürzen, auch das, was man für felsenfest gehalten hatte. Dann blieb nur der Kampf ums Überleben, für sich selbst

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