Das Haus Der Schwestern
hinunter. George stürzte in die Küche, um zu sehen, ob er Adeline etwas Eßbares abluchsen konnte. Adeline schimpfte, und Großmutter Kate, die auf geheimnisvolle Weise alles mitbekam, was um sie herum geschah, stimmte in das Schimpfen ein. Irgendwo schlug eine Tür oder stolperte jemand über herumliegende Gegenstände. Das Haus war erfüllt gewesen von Stimmen, Gelächter und manchmal auch handfesten Streitereien.
Diese Grabesruhe, die nun über ihm lag, war unnatürlich. Sie paßte nicht hierher. Sie war dumpf und lähmend. Frances hatte wieder einmal das Bedürfnis, aufzuspringen und ein Fenster aufzureißen. Sie nahm sich zusammen. Es hätte ihren Vater vielleicht gestört.
»Sie war mein Leben«, sagte Charles plötzlich. Das kam so unvermittelt, daß Frances zusammenzuckte.
»Sie war mein Leben«, wiederholte er leise. »Nun ist alles vorbei. «
Erneut krampfte sich Frances’ Magen zusammen, aber diesmal lag es nicht am Alkohol.
»Es ist nicht alles vorbei, Vater«, sagte sie. »Du bist nicht allein. Du hast uns. Victoria, George und mich. Wir sind auch ein Teil von dir und deinem Leben.«
Der Schmerz hatte ihn mitleidlos gemacht.
»Ihr seid nicht ein Teil meines Lebens», sagte er, »ihr geht eure eigenen Wege.«
»Das ist nur natürlich. Aber wir gehören zusammen.«
Er erwiderte nichts darauf, aber sein Schweigen sagte mehr, als es Worte vermocht hätten.
Frances neigte sich vor. »Vater, wenn du mir nicht verzeihen kannst, daß ich im Gefängnis war und du mich herausholen mußtest, dann kann ich daran nichts ändern. Ich werde auch ganz sicher nicht um deine Vergebung betteln. Aber um deiner selbst willen solltest du deine Kinder jetzt nicht von dir weisen. Und du mußt George verzeihen — wenn du noch immer meinst, er hat ein solches Unrecht begangen, als er sich für Alice Chapman entschied. Er hat für dieses Land gekämpft. Damit auch für dich. Er hat es verdient, jetzt mit offenen Armen aufgenommen zu werden.«
»Ich weiß nichts von ihm.«
»Willst du denn etwas von ihm wissen?«
»Nein.«
Frances stand mit einer ruckartigen Bewegung auf.
»Ich weiß aber vieles von ihm«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Ich bin drüben gewesen in Frankreich. In dem Lazarett, in dem George lag. Gleich hinter der Front. Ich habe den Krieg aus nächster Nähe miterlebt und mich manchmal gefragt, wie ein Mensch weiterleben kann nach dieser Hölle. Die Männer sind da gestorben wie die Fliegen. Sie sind unter den Händen der Ärzte verreckt. Sie haben geschrien und gewimmert und sich in ihrem Blut gewälzt. Manche haben gebettelt, daß man sie erschießt. Manche haben den Verstand verloren. Ich habe es gesehen. Ich weiß, wovon ich rede.« Sie hielt inne. Charles’ Miene war unbewegt geblieben.
»George braucht deine Hilfe«, fuhr sie eindringlich fort, »er ist ein kranker Mann. Wenn du ihm jetzt das Gefühl gibst, allein gelassen zu werden, wird er sich vielleicht nie erholen.«
Er hatte die ganze Zeit an ihr vorbeigestarrt. Nun endlich blickte er sie an. »Es geht nicht um Verzeihen«, sagte er, »es geht darum, daß ich nicht die Kraft habe, mich um irgend jemanden zu kümmern. Ich brauche selbst jemanden, um mich zu stützen.« Er erhob sich aus dem Sessel, ging zum Fenster, sah hinaus in die Dunkelheit.
»Wie gut, daß ich Victoria habe«, murmelte er, »sie ist ein Halt.«
Frances schnappte nach Luft. War das sein Ernst? Das Püppchen, das ständig jammerte und nun schon seit Tagen pausenlos heulte? Wie, um Himmels willen, sollte sie ein Halt sein?
»Victoria?« fragte sie ungläubig. Aber Charles schien nicht geneigt, eine Erklärung abzugeben; er schwieg und blickte weiter hinaus in die Nacht.
Natürlich, sie hat immer getan, was von ihr erwartet wurde, dachte Frances, was er von ihr erwartet hat. Sie ist berechenbar für ihn, und deshalb fühlt er sich bei ihr sicher.
Sie mühte sich, ihren Ärger hinunterzuwürgen. Es schien ihr nicht richtig, am Tag von Maureens Beerdigung Haßgefühle gegen ihre Schwester in sich zu dulden. Aber zweifellos waren diese Gefühle da, geboren schon vor langer Zeit, keineswegs kleiner geworden durch die Schuld, die sie durch ihre Affäre mit John auf sich geladen hatte.
Sie trank den restlichen Whisky aus und widerstand dem Bedürfnis, sich einen dritten einzuschenken. Es hätte ihren Vater nur in seiner schlechten Meinung von ihr bestärkt, wenn sie beim Verlassen des Zimmers nicht mehr gerade hätte gehen können.
Die liebe, kleine Vicky hat sich
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