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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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bestimmt noch nie betrunken, dachte sie bitter.
    »Auf jeden Fall«, sagte sie, »muß George vorerst hierbleiben. Es gibt keinen anderen Ort, wohin er gehen könnte. Und er kann im Moment nicht für sich sorgen. Bist du einverstanden?«
    »Womit?«
    »Daß er hierbleibt«, wiederholte sie mit leise bebender Stimme.
    Charles zuckte mit den Schultern. »Solange es noch geht, kann er bleiben. Du auch. Ihr stört mich nicht.«
    »Was heißt — solange es noch geht?«
    »Solange wir Westhill noch haben. Ich weiß nicht, wie lange das sein wird.«
    »Was?«
    »Es steht nicht gut. Viele unserer Pächter sind im Krieg. Es gab Krankheiten unter den Schafen. Viele Tiere gingen verloren. Eine Reihe von Pächtern haben aufgegeben und sind weggezogen.«
    »Wie schlimm ist es denn?« fragte Frances alarmiert. Sie konnte es kaum glauben. Ihr Vater redete, als ginge es um nichts Besonderes. Dabei ging es um alles.
    »Ich weiß nicht, wie schlimm es genau ist. Aber wir haben nicht mehr viel Geld.«
    »Und was wirst du tun?«
    Er sah sie an, als sei sie eine Fremde, die zu seiner Verwunderung überhaupt nichts begriffen hatte.
    »Nichts«, antwortete er, »ich werde nichts tun. Ich mag nichts tun.«
    Mit schweren Schritten ging er an ihr vorbei aus dem Raum. Sie sah fassungslos hinter ihm her, ließ sich dann auf einen Sessel fallen. Er hatte ihr die Nachricht, daß Westhill in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, so zufällig und gleichgültig mitgeteilt, als hätte er nur gesagt, es werde wohl regnen über Weihnachten. Es schien ihn kaltzulassen, was aus ihnen allen wurde, und sie hatte die düstere Ahnung, daß sich daran nichts ändern würde.
    Charles war nicht etwa in eine vorübergehende Resignation gefallen, die schwinden würde mit dem allmählichen Nachlassen des Schmerzes. Charles würde nie Linderung finden, er würde nie mehr neue Kraft schöpfen. Mühsam gestand es sich Frances in diesen Minuten, in diesem stillen Zimmer vor dem Kamin ein: Ihr Vater besaß überhaupt keine Kraft, auf die er sich irgendwann würde rückbesinnen können. Er hatte nie Kraft gehabt. Er war ein schwacher Mann, und das winzige bißchen Stärke, das ihm die Natur mitgegeben hatte, hatte er verbraucht, als er mit seiner Familie brach, um Maureen zu heiraten. Und das hatte er auch nur geschafft, weil ihm das schöne, eigenwillige Mädchen aus Irland, das sich von nichts und niemandem unterkriegen ließ, mehr Halt gab, als es seine Familie vermochte.
    Charles brauchte einen Menschen, der ihn an der Hand nahm und führte. Störte jemand sein mühsam errungenes Gleichgewicht, wie es George und Frances getan hatten, zog er sich zurück und tat alles, damit es nicht ein zweites Mal passierte. Wenn er sagte, Maureen sei sein Leben gewesen, so stimmte das. Er hatte nur durch sie gelebt.
    Nun, da sie tot war, blieb nichts mehr von ihm übrig.

    Juli 1919

    Rosafarbene und gelbe Rosen rankten sich an den steinernen Wänden des kleinen Cottage empor. Wicken schoben sich dazwischen, saphirblauer Rittersporn leuchtete in der Sonne. In das hohe, schaumige Gras des Gartens hatte sich vereinzelt hellroter Klatschmohn verirrt. An einem knorrigen, schiefen Apfelbaum, der breit und behäbig geworden war unter dem Seewind und den häufigen Stürmen, denen er trotzen mußte, röteten sich die Äpfel. Über die Mauer, die das Grundstück umschloß, strich eine schwarzweiße Katze. Unterhalb der Felsen, die sich jenseits des Gartens anschlossen, schimmerte das Meer in hellem Türkisblau, durchsetzt von den weißen Tupfern der Schaumkronen. Die Bucht von Staintondale glänzte an diesem Tag in hellem Sonnenschein. Die weite Hochebene zwischen Scarborough und den North York Moors, sonst häufig düster in ihrer Kargheit und Einsamkeit, lag heute lieblich und blühend unter dem wolkenlosen Himmel.
    Es war schwer zu sagen, wie alt der Mann sein mochte, der aus dem Cottage trat und in die Sonne blinzelte. Seine Haare waren grau, etwas zu lang und ziemlich struppig. Ein ebenfalls grauer Bart bedeckte sein Gesicht. Aber die gebräunte Haut war glatt; nur um die Augen zeigten sich ein paar Fältchen. Der Mann mußte sich bücken, um durch die Tür zu gelangen. Er war groß; noch nicht gebeugt, wie es alte Männer oft sind.
    Er blickte den beiden Frauen entgegen, die den von Vergißmeinnicht gesäumten Gartenweg entlangkamen. Sie trugen einen Korb zwischen sich. Er lächelte nicht, aber er sah auch nicht unfreundlich drein. Besucher schienen ihn weder zu erfreuen noch zu

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