Das Haus Der Schwestern
Augen waren geschwollen, als habe sie geweint. Die Falten an den Mundwinkeln hatten sich vertieft. Frances wunderte sich, daß ihre hohlköpfige Schwester — wie sie Victoria insgeheim titulierte — über ein Ereignis wie den bevorstehenden Kriegsausbruch so aus dem Häuschen geriet, daß sie es versäumte, sich ordentlich zu kämmen und genügend Schminke aufzulegen, um die Spuren einer durchwachten Nacht zu verbergen. Aber wie sich herausstellte, hatte Victorias Erregung überhaupt nichts mit der internationalen Politik zu tun.
»Wo ist Vater?« fragte sie hektisch und sah sich in der Küche um, wo Frances und Adeline vor dem Radio kauerten. Frances rauchte eine Zigarette nach der anderen, und Adeline trank eine Honigmilch, um ihre Nerven zu beruhigen. Mit knapp achtzig Jahren, hatte sie erklärt, überstiegen Geschehnisse, wie sie sich jetzt abspielten, eindeutig ihre Kräfte.
»Vater ist zum Grab gegangen«, sagte Frances, »aber er will vor elf zurück sein.«
»Sicher?«
»Natürlich«, antwortete Frances gereizt, denn langsam schwante ihr, daß es nicht Chamberlains Ultimatum war, was Victoria im Kopf herumspukte.
»Ab elf Uhr befinden wir uns höchstwahrscheinlich im Krieg mit Deutschland. Vater ist sehr besorgt deswegen.«
Er hatte sogar gezögert, überhaupt wegzugehen, aber am Sonntag vormittag besuchte er Maureen seit nunmehr dreiundzwanzig Jahren, und nun würde nicht ausgerechnet Hitler das verhindern können.
»Ich werde hier auf ihn warten«, sagte Victoria, setzte sich auf einen Küchenstuhl und fing an zu weinen.
Adeline stand ächzend auf, holte einen Becher aus dem Schrank und nahm den Milchtopf vom Herd.
»Kindchen, jetzt trinken Sie erst einmal eine schöne, heiße Honigmilch«, sagte sie. »Sie werden sehen, das hilft. Wir sind alle etwas durcheinander heute.«
»Mir wird nichts helfen, Adeline, gar nichts«, schluchzte Victoria. Frances drehte das Radio aus. »Was ist passiert?« fragte sie.
»John . . .«, stieß Victoria hervor.
Frances schoß auf ihre Schwester zu, packte ihr Handgelenk. »Was ist mit ihm? Ist er krank?«
Victoria erschrak so, daß sie aufhörte zu weinen und ihre Augen weit aufriß. Sie machte einen schwachen Versuch, sich aus Frances’ Klammergriff zu befreien, aber es gelang ihr nicht.
»Nein, er ist nicht krank. Er . . . Ich verlasse ihn. Ich wollte Vater fragen, ob ich hier wieder wohnen kann. Ich möchte geschieden werden.«
Frances ließ Victorias Arm los und sagte leise: » O Gott!«
»Himmel!« murmelte Adeline und vergaß völlig, den Honig in die Milch zu rühren. Langsam und klebrig tropfte er vom Löffel auf den Fußboden.
»Aber warum denn bloß so plötzlich ? « fragte Frances schockiert.
»Es ist gar nicht so plötzlich«, sagte Victoria, während sie versuchte, mit einem Taschentuch ihr Gesicht zu trocknen. »Ich habe während der ganzen letzten Jahre immer wieder darüber nachgedacht. Es schien mir nur, ich könnte das nicht tun. Ihr wißt, wie Mutter als Katholikin über Scheidung gedacht hat.«
Victoria schneuzte sich kräftig die Nase. Im Licht der Vormittagssonne, die in einem breiten Streifen durch eines der Fenster fiel, sah ihr Gesicht verquollen und häßlich gerötet aus. Von seiner Lieblichkeit war nichts zu erkennen in diesem Moment.
»Was ist denn eigentlich passiert?« fragte Frances vernünftig.
»Er hat sich fürchterlich betrunken in der letzten Nacht. Ich hatte Angst vor ihm.«
»Hat er Ihnen etwas getan?« fragte Adeline mit weit aufgerissenen Augen. Victoria schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich hatte den Eindruck, es fehlte nicht viel.«
Frances gab einen verächtlichen Laut von sich. »Meine Güte, Victoria, ich glaube, du bauschst da wieder einmal etwas auf! Er hat sich betrunken. Das kommt eben vor. Jeder hat mal einen schlechten Tag und trinkt zuviel. Davon stürzt die Welt nicht ein.«
»Er trinkt aber regelmäßig zuviel. Es ist nicht so, daß er jeden Tag völlig hinüber wäre, aber es vergeht auch kein Tag, an dem er nicht trinkt. Und zwar schon vormittags.«
»Er hat manches mitgemacht«, sagte Adeline sanft. Sie bemerkte endlich, daß sie den Becher mit Milch in der einen, den Löffel in der anderen Hand hielt und daß der Honig als bernsteinfarben leuchtender Klecks auf dem Fußboden lag. »Herrje«, seufzte sie.
Victoria bekam blitzende Augen. Ungewohnt heftig fuhr sie auf: »Er hat manches mitgemacht? Was denn eigentlich? Er war im Krieg, wie tausend andere auch. Er hat diesen Jungen im Stich
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