Das Haus Der Schwestern
gelassen, wie er meint, aber sollte er denn warten, bis er selbst getötet oder gefangengenommen wurde? Es gibt Männer, die haben ein Bein verloren oder ihr Augenlicht. Trotzdem haben sie nach ihrer Rückkehr nicht ihren Familien für alle Zeiten das Leben zur Hölle gemacht! « Ihre Stimme schwankte schon wieder, aber diesmal würgte sie die Tränen zurück.
»Ich habe alles versucht«, sagte sie ruhig und wirkte auf einmal nicht mehr wie ein gealtertes Kind, sondern wirklich erwachsen. »Ich kann jetzt nicht mehr.«
»Arme Vicky! « tröstete Adeline. Sie stellte die Milch vor sie hin. »Hier, trinken Sie das!«
Victoria nippte in vorsichtigen Schlucken. Dann fuhr sie fort: »Wißt ihr, es war die Hölle. Ich habe es jetzt mehr als zwanzig Jahre ausgehalten. Ich habe für ihn praktisch nicht mehr existiert nach dem Krieg. Es gab Zeiten, da hat er über Wochen kein Wort mit mir gesprochen. Es gab mich nicht mehr für ihn. Wenn ich versuchte mit ihm zu reden, reagierte er aggressiv, gereizt. Ich habe ihn angefleht, mir zu sagen, wie ich ihm helfen könnte, aber er hat nur gesagt, ich solle ihn in Ruhe lassen, und daß ich ihn doch nicht verstünde. Aber welche Chance hat er mir denn gegeben, ihn zu verstehen? Wenn er nie mit mir redet! « Sie trank wieder ein paar Schlucke Milch. Das heiße Getränk schien ihr gutzutun und sie zu beruhigen.
»Und dann war er so oft weg. Und immer saß ich allein in diesem riesigen, dunklen Haus. Wenn ich wenigstens Kinder gehabt hätte . . .«
»Hast du ihm schon gesagt, daß du dich scheiden lassen willst?« fragte Frances.
»Ja. Heute früh. Es ging ihm gar nicht gut, betrunken wie er in der letzten Nacht war. Aber trotzdem habe ich es ihm gesagt.«
»Und? Wie hat er reagiert?«
»Er sagte, er werde mir keine Steine in den Weg legen. Er war ganz ruhig.«
Victorias Augen verrieten, wie verletzt sie sich fühlte. Ihr Mann hatte ihr deutlich gezeigt, daß es ihn kaltließ, wenn sie von ihm fortging.
Frances versuchte, Ordnung in die verschiedenen Empfindungen zu bringen, die in ihr stritten. Warum erschreckte sie diese Nachricht so? Regte sich ihr Gewissen, nun, da sie Victoria so erlebte — resigniert, traurig und durcheinander? Sie wußte, daß Johns erloschene Liebe für Victoria nichts mit ihr, Frances, ursächlich zu tun hatte; aber sie wußte auch, daß es ohne ihr Zutun vielleicht eine Möglichkeit für die beiden gegeben hätte, etwas von dem wiederzufinden, was sie vor langen Jahren einmal miteinander verbunden hatte. An der Qual in Victorias Augen heute morgen war sie nicht ganz unschuldig.
Nachdem Frances jahrzehntelang den Haß auf Victoria in sich herumgetragen, gehegt und gepflegt hatte, stellte sie nun verwirrt fest, daß dieser Haß in sich zusammenfiel und nichts zurückließ als einen bitteren Geschmack im Mund. Wofür sollte sie Victoria verdammen? Dafür, daß sie ihr den Mann weggenommen hatte? Für ihre Koketterie, ihr albernes Getue, ihre verächtlichen Reden, die sie über Frauen führte, die weniger hübsch waren als sie? Für ihr Weltbild, in dem es immer nur um schöne Kleider, Schmuck und Geselligkeit ging? Für ihre Vorliebe für Damentees, Pferderennen und Ballabende? Für ihre Apfelwangen und das goldene Haar?
Irgendwie war das alles auf einmal so bedeutungslos geworden. Die Frau, die da auf dem Küchenstuhl kauerte und ihre Milch trank, hatte keine Apfelwangen mehr, und Schmuck, Kleider und Geplänkel interessierten sie für den Moment ganz sicher nicht. Diese Frau sah verhärmt aus, verbittert und sehr traurig. Es war Frances unmöglich, etwas von ihrem Zorn auf sie wiederzubeleben.
»Du solltest das alles noch einmal in Ruhe überlegen«, sagte sie unbehaglich und weit sanfter, als sie sonst mit ihrer Schwester sprach.
Aber Victoria, die kindische, unentschlossene Victoria, die meist wie ein Grashalm im Wind schwankte, hatte sich diesmal offenbar wirklich entschieden.
»Nein«, sagte sie, »da gibt es nichts mehr zu überlegen. Ich habe mehr als zwanzig Jahre gekämpft und gelitten. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte für uns, hätte ich sie in dieser Zeit gefunden. Aber es gibt keine. Und wenn ich weitermache mit ihm, wird es mich eines Tages umbringen.«
»Ihre Mutter würde Sie verstehen«, sagte Adeline, »sie war eine gute Katholikin, aber ihre Familie stand ihr immer näher als die Kirche. Sie hätte gesagt, Sie sollten sich nicht länger quälen! «
Victoria verzog ihre bleichen Lippen zu einem schwachen, dankbaren
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