Das Haus Der Schwestern
Fähigkeiten Wert als auf die, französisch sprechen zu können.
Victoria überraschte alle, indem sie erklärte, sie würde sich gern als Schülerin anmelden. Sie hatte in der Schule Französisch gelernt, und es war ein Fach gewesen, in dem sie geglänzt hatte.
»Aber...«, begann Frances, doch Victoria unterbrach sie mit ungewohnter Schärfe.
»Ich will meine Kenntnisse auffrischen. Falls sie überhaupt noch vorhanden sind. Ich habe seit Ewigkeiten kein Wort Französisch mehr gesprochen.«
Später, als Marguerite gegangen war, sagte sie zu Frances: »Sie braucht Hilfe, und sie wäre viel zu stolz, einfach Geld anzunehmen. Also werde ich Stunden nehmen, dann kann ich sie wenigstens ein bißchen unterstützen. Es ist furchtbar, was sie durchmachen muß, findest du nicht? Ich könnte diese Ungewißheit nicht ertragen.«
»Ihr bleibt eben nichts anderes übrig«, sagte Frances. Etwas mißmutig fügte sie hinzu: »Du erstaunst mich, Victoria. Ich wußte nicht, daß du dir so viele Gedanken um andere Menschen machst. Marguerite gefällt dir wohl?«
»Ich finde, sie ist schön und gebildet. Außerdem...« Victoria zögerte, ehe sie fortfuhr: »Außerdem bin ich sehr allein. Ich brauche etwas Ablenkung. Mit den Französischstunden hätte ich wenigstens etwas, das mein Alltagseinerlei unterbricht.«
»Nun, dann habt ihr ja beide einen Gewinn dabei«, meinte Frances.
Sie fand Marguerite sympathisch und sehr intelligent, aber sie fragte sich, ob zwischen ihr und Victoria tatsächlich eine Freundschaft entstehen konnte. Würde Marguerite Gefallen finden an der ewig jammernden Victoria?
Im September bombardierten deutsche Kampfflieger London und richteten schwere Verwüstungen in der Innenstadt an. Nacht für Nacht flohen die Menschen in die Keller ihrer Wohnungen oder in die U-Bahnhöfe. Ganze Häuserzeilen brannten, die Löschkommandos arbeiteten in Dauereinsätzen. Trümmer blockierten die Straßen. Der Krieg rückte in bedrohliche Nähe, die Entschlossenheit der Feinde war unübersehbar.
Hitler plante die Landung der Deutschen in England, verschob das "Unternehmen Seelöwe« jedoch wegen der ungünstigen Wetterlage. Es gelang der Royal Air Force immer wieder, Bomber abzuschießen und den Deutschen zu zeigen, daß die Engländer es ihnen schwermachen würden. Die Angst der Bevölkerung war jedoch besonders in der Hauptstadt und in den Industriegebieten sehr groß. Die Bomben zerstörten nicht nur Häuser und Straßen, sie zermürbten die Menschen auch und schüchterten sie ein. Das nächtelange Ausharren in den Luftschutzkellern, das begleitet war vom Sirren der fallenden Bomben und vom Lärm ihrer Detonation, kostete Kraft und Nerven. Die kursierenden Gerüchte von einer bevorstehenden Landung deutscher Truppen taten ihr übriges, Unruhe und Furcht zu schüren.
In der letzten Septemberwoche erhielt Frances einen Anruf von Alice aus London. Es war ein kühler, bedrückend stiller Herbsttag, an dem sich der Nebel bis zum Nachmittag nicht lichten wollte und alle Stimmen und Laute verschluckt zu haben schien. In der Luft hing der Geruch von modrigem Laub und feuchter Erde. Es dämmerte bereits, als Frances von den Pferdeställen zurückkam, wo sie seit dem frühen Morgen um eine Stute bemüht gewesen war, die Schwierigkeiten gehabt hatte, ihr Fohlen zur Welt zu bringen. Aber nun war der kleine Hengst da, Mutter und Kind erholten sich von den Strapazen.
Frances war müde und verfroren und sehnte sich nach einem heißen Bad. Als sie das Haus betrat, konnte sie aus dem Eßzimmer Marguerite und Victoria auf französisch plaudern hören. Marguerite lachte gerade.
Man kann über Victoria sagen, was man will, aber dieser armen Frau ist sie wirklich eine Hilfe, dachte Frances.
Im Wohnzimmer schrillte das Telefon. »Ein Gespräch für Sie aus London«, sagte die Vermittlerin gelangweilt, als Frances sich meldete.
Es war Alice. Sie hörte sich schrecklich an. Aufgeregt und schrill. Sie sprach so schnell, daß es schien, sie müsse jeden Moment über ihre Zunge stolpern.
»Frances, es ist furchtbar. Unser Haus hat einen Volltreffer abbekommen heute nacht. Es ist vollkommen kaputt. Alles ist kaputt. Zum Glück hat der Keller gehalten, aber als Kalk und Staub von der Decke rieselten, dachte ich, es ist aus mit uns. Es war ein Lärm wie in der Hölle. Ein Inferno. Als wir aus dem Keller kamen, hat es ringsum nur gebrannt. Der Himmel war glutrot von den vielen Feuern. Die Menschen schrien, und . . .«
»Alice«, sagte
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