Das Haus Der Schwestern
Frances beschwörend, »nun beruhige dich doch. Ist einem von euch etwas passiert?«
»Nein. Wir sind in Ordnung.«
»Wo bist du jetzt?«
»Wir sind bei Bekannten von Hugh untergekommen. Von unserem Haus ist ja nichts mehr übrig. Wir haben nichts mehr als die Kleider, die wir auf dem Leib tragen!«
Alice stand an der Schwelle zur Hysterie, das war ihrer Stimme anzuhören. Frances sah hinaus in den stillen, nebligen Tag. Kaum vorstellbar, was sich in der letzten Nacht in London abgespielt haben mußte. Was Alice berichtete, schien aus einer anderen Welt zu kommen.
»Verliere jetzt nicht die Nerven, Alice. Es wird alles in Ordnung kommen. Kann ich irgend etwas für dich tun? «
»Du kannst meine Kinder bei dir aufnehmen«, sagte Alice.
Laura und Marjorie sollten am 11. Oktober in Northallerton eintreffen. Ein regnerischer, windiger Tag, grau und dunkel, der den Begriff vom »goldenen Oktober« verhöhnte. Was hätte Frances tun sollen?
»Sie evakuieren die Kinder jetzt zwangsweise aus London«, hatte Alice gesagt, »und ich habe Angst um die beiden. Die Kinder einer befreundeten Familie wurden bereits weggebracht. Eines Morgens saßen sie dann mit hundert anderen Kindern auf irgendeinem Acker in den Cotswolds, und die Bauern der Umgebung strömten herbei, um sich die Kinder auszusuchen, die sie mitnehmen wollten. Geschwister wurden rücksichtslos auseinandergerissen. Es müssen sich schreckliche Szenen abgespielt haben. Ich will das meinen Kindern ersparen, aber ich kann sie nicht hierbehalten, man würde sie mir wegnehmen. Bei dir könnten sie wenigstens zusammenbleiben. «
»Wie alt sind die beiden jetzt?« fragte Frances. Sie mochte Kinder nicht besonders. Sie wußte auch nicht mit ihnen umzugehen. Aber wenn sie nein sagte, verhielt sie sich schäbig.
»Laura ist gerade vierzehn geworden«, antwortete Alice, »und Marjorie ist elf. Die beiden sind völlig verstört nach der letzten Nacht, besonders Laura. Aber sie sind brave Kinder. Sie machen dir bestimmt keine Schwierigkeiten.« Zwei verstörte Kinder, eines davon in einem problematischen Alter! Es war genau das, was ihr noch gefehlt hatte. Aber sie sagte ja und genehmigte sich danach einen doppelten Whisky.
Sie fühlte sich eigentümlich beklommen, als sie losfahren wollte, um die Kinder abzuholen. Der Tag war von einer Düsternis, die Unheil zu verheißen schien. Charles hatte sich in aller Frühe auf den Weg zu Maureens Grab gemacht, obwohl er heftig erkältet war und besser im Haus geblieben wäre. Natürlich hatte er sich wieder einmal von niemandem dreinreden lassen. Victoria war unruhig, weil Marguerite nicht zur vereinbarten Französischstunde um neun Uhr erschienen war.
»Ich verstehe das gar nicht«, sagte sie zu Frances, als diese um halb zehn herunterkam, um sich auf den Weg nach Northallerton zu machen, »sie war immer absolut zuverlässig. Es sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, einfach wegzubleiben.«
»Es wird eine Erklärung geben«, entgegnete Frances zerstreut. »Hör zu, Victoria, willst du mich nicht zum Bahnhof begleiten? Du gewinnst vielleicht schneller das Vertrauen der beiden Kinder!«
»Ich warte lieber auf Marguerite. Vielleicht kommt sie ja jeden Moment.«
Im Auto, hinter den unermüdlich arbeitenden Scheibenwischern, fragte sich Frances, woran es liegen mochte, daß sie sich so unbehaglich fühlte. Traute sie es sich nicht zu, mit diesen beiden armen Kindern zurechtzukommen? Das war lächerlich. Sie hatte ganz andere Dinge bewältigt im Leben. Aber irgendwo auf diesen einsamen Landstraßen, zwischen tropfnassen Herbstwiesen, zerzausten Bäumen und nebelverhangenen Hügeln, als sich eine unerklärliche Traurigkeit wie eine langsam fortschreitende Lähmung in ihr ausbreitete, begriff sie, daß sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben alt fühlte und daß daraus die Mutlosigkeit erwuchs, die ihr so zu schaffen machte.
Über das Alter hatte sie vorher nie nachgedacht, das Älterwerden hatte sie als Gewinn empfunden, sich nie gewünscht, wieder jung zu sein. Jugend? Sie war heute stärker als früher, selbstsicherer, sie hatte ihren Platz gefunden und ging ihren Weg. Das ewige Wünschen, Wollen, Suchen war vorüber. Sie hatte sich mit sich selbst arrangiert, mit allem, was ihr gegeben worden, aber auch mit allem, was ihr versagt geblieben war. Es war Jahre her, daß sie zuletzt geklagt hatte, weil sie nicht so schön war wie Victoria. Jahre, daß sie um John geweint hatte.
Aber heute... Sie wußte, daß sie gleich Alices
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