Das Haus Der Schwestern
zu erwidern. Marguerite hatte recht.
»Mein Mann ist tot«, sagte Marguerite in die Stille hinein. Es kam so klar und kalt, daß alle zusammenzuckten. »Ich wußte es gleich, als ich den Brief heute früh bekam. Vielleicht wußte ich es sogar schon die ganze Zeit.«
»Oh, Marguerite, es tut mir so leid!« rief Victoria eine Spur zu theatralisch.
»Schon gut«, sagte Marguerite. Ihre Augen glänzten fiebrig, blieben aber trocken. Sie würde nicht weinen, das wußte Frances instinktiv. Marguerite war stählern in ihrem Innern.
»Ich würde nur gern wissen, ob die Version von der Lungenentzündung stimmt«, fuhr sie fort, »fast hoffe ich es. Es wäre schlimmer, wenn sie ihn totgeschlagen hätten. Wenn er an den Folterungen gestorben wäre.« Bei diesem letzten Satz schwankte ihre Stimme ein wenig.
»Bei den Nazis weiß man das nie«, meinte Victoria unbedacht.
»Ach was! Wenn sie Lungenentzündung schreiben, dann war es auch eine Lungenentzündung!« sagte Frances schroff. »Warum sollten die Nazis um die Tatsachen herumreden?«
»Sie sind Bestien«, erklärte Marguerite, »aber sie versuchen dennoch, den Rest eines Scheins zu wahren. Es macht sich schlecht, wenn sie in einem Brief schreiben: Wir haben Monsieur Brunet zu Tode gefoltert! Lungenentzündung klingt in jedem Fall besser.« Sie stand auf. »Vielleicht werde ich die Wahrheit nie erfahren. Wie haben seine letzten Minuten wohl ausgesehen?«
Niemand sagte etwas. Was hätte man auch sagen können? Was auch immer sich in Fernand Brunets letzten Minuten abgespielt haben mochte, sie waren mit Sicherheit hart und schwer gewesen. In einem deutschen Konzentrationslager starb es sich nicht leicht, so oder so nicht. Das wußten sie alle, und es hatte keinen Sinn, Marguerite etwas anderes einreden zu wollen.
»Was werden Sie nun tun?« fragte Frances schließlich.
Marguerite zuckte mit den Schultern. »Was soll ich schon tun? Vorerst kann ich nur hierbleiben. Es wäre zu riskant, nach Paris zurückzukehren. Sicher stehe ich bei den Nazis noch immer auf der Liste.«
Sie griff nach ihrem Mantel, den sie achtlos über eine Stuhllehne geworfen hatte, und nach ihrer Handtasche.
»Victoria, wenn es Ihnen recht ist, holen wir die heutige Französischstunde morgen oder übermorgen nach. Ich fürchte, ich kann mich im Augenblick nicht konzentrieren.«
»Natürlich. Kommen Sie einfach wieder, wenn es Ihnen bessergeht.«
»Möchten Sie vielleicht einen Brandy, bevor Sie sich auf den Heimweg machen?« fragte Frances.
Marguerite schüttelte den Kopf. »Danke. Ich trinke keinen Alkohol. « Ihr Blick glitt zum Fenster hinaus in den regnerischen Tag.
»Da kommt jemand«, sagte sie, »zwei Männer.«
Victoria war ihrem Blick gefolgt, und ihre Augen begannen nervös zu flackern.
»Es ist John«, flüsterte sie.
Es wunderte Frances gar nicht mehr, und es war gewissermaßen der Gipfel eines schlimmen Tages, daß ihr Vater fiebernd und hustend von John ins Haus gebracht wurde. Charles konnte allein nicht mehr gehen oder stehen und stützte sich schwer auf seinen Schwiegersohn. Bei jedem Atemzug rasselte es in seiner Brust. Seine Stirn fühlte sich glühend heiß an. Vom Regen war er bis auf die Haut durchweicht und zitterte vor Kälte.
Wie sich herausstellte, hatte John einen Spaziergang über den Friedhof gemacht — bei allem Erschrecken über den Zustand ihres Vaters fand Frances doch noch die Zeit, sich voller Ratlosigkeit zu fragen, warum John etwas so Eigenartiges tat —, und dabei hatte er Charles entdeckt, der in sich zusammengesunken auf der Bank vor Maureens Grab saß, langsam aufgeweicht wurde vom Regen und auf eine bedrohliche Weise hustete. Er hatte ihn mehrfach angesprochen, ohne eine Antwort zu bekommen, und schließlich hatte er beschlossen, ihn einfach nach Hause zu schaffen. Es war nicht leicht gewesen, Charles bis zum Auto zu bringen; er wehrte sich zwar nicht, aber er hing wie ein nasser Sack an Johns Schulter, und seine Füße schleiften über die matschige Erde.
»Ihr solltet einen Arzt holen«, riet John, »das sieht übel aus.«
»Wie gut, daß du ihn gefunden hast!« rief Frances. »Kannst du uns helfen, ihn nach oben zu bringen?«
Gemeinsam gelang es ihnen, Charles die Treppe halb hinauf zu tragen, halb zu ziehen. Als er auf seinem Bett lag, war Frances erleichtert.
»Danke, John«, sagte sie.
John atmete schwer. »Schon gut.«
Er lächelte. Erstaunlicherweise schien er an diesem Morgen nüchtern zu sein.
»Wie geht’s dir so, Frances?«
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