Das Haus Der Schwestern
patriotischem Stolz, und wenn das auch übertrieben war, so lag die Abschußquote deutscher Flieger durch die Briten tatsächlich ungewöhnlich hoch.
In Westhill ging das Leben in diesem schneelosen, matschigkalten Winter seinen gewohnten Gang. Die beiden Kinder schienen sich halbwegs einzuleben — soweit Frances das beurteilen konnte, denn die Mädchen blieben sehr verschlossen. Laura redete noch weniger als Marjorie. Dafür machte sie sich zu jeder Tageszeit über das Essen her, als sei es ihre letzte Mahlzeit. Anfang Oktober war sie als zwar schon etwas pummeliges, aber noch kindliches Ding angekommen; bis zum März des darauffolgenden Jahres brachte sie zwanzig Pfund mehr auf die Waage, hatte breite Hüften bekommen und Brüste, über denen ihre Pullover spannten und die bei jedem Schritt auf und ab wogten.
Frances hielt Lauras Appetit für ein gutes Zeichen, und auch Adeline platzte fast vor Stolz, denn sie fühlte sich in ihren Kochkünsten geschmeichelt. Marguerite jedoch bat Frances eines Tages um ein Gespräch.
»Laura macht mir Sorgen«, sagte sie.
Marguerite kam inzwischen jeden Tag nach Westhill. Frances war auf den Einfall gekommen, sie als Lehrerin für die beiden Mädchen zu verpflichten. Weder sie noch Alice hatten die Frage des Schulbesuchs bedacht. Alice hatte nur im Sinn gehabt, ihre Kinder vor den Luftangriffen in Sicherheit zu bringen; angesichts dieser akuten Gefahr für Leib und Leben war ihr der profane Gedanke an ihre Ausbildung gar nicht gekommen. Frances jedoch wurde schnell klar, daß Laura und Marjorie unbedingt einen geregelten Tagesablauf brauchten, vor allem im Winter, da sie ans Haus gefesselt waren und von früh bis spät in den Zimmern herumlungerten. Es schien ihr jedoch wenig sinnvoll, sie in die Dorfschule nach Leigh’s Dale zu schicken, in der den Bauernkindern die Grundkenntnisse von Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht wurden und darüber hinaus nichts weiter. Jeden Morgen bis in die größere Schule nach Aysgarth Village zu fahren, war zu weit.
So erschien also Marguerite jeden Tag und unterrichtete die Kinder bis zum Mittag. Meist nahm sie dann am Familienessen teil, und während die Kinder später ihre Schulaufgaben erledigten, hielten Marguerite und Victoria bei einer Tasse Tee vor dem Kamin ihre Französischstunde ab. Frances wußte, daß Alice nie in der Lage sein würde, ihr das Geld für den Unterricht zurückzuzahlen; aber sie standen recht gut da auf Westhill, und es machte ihr nichts aus, die entsprechenden Beträge abzuzweigen. Zudem erleichterte es Marguerite das Leben.
Und es beschäftigte die Kinder! Frances hätte sogar das Doppelte bezahlt, wenn sie damit nur hätte verhindern können, daß die unangenehme Marjorie, die sie im Aussehen immer an eine Ratte erinnerte, ständig hinter ihr herschlich und sie belauerte. Sie fand, die Kleine habe einen verschlagenen Ausdruck in den Augen. Zwischendurch rief sie sich dann allerdings wieder zur Ordnung und sagte sich, daß es lächerlich sei, so viel Boshaftes in einem kleinen Mädchen zu sehen.
Dennoch war sie erstaunt, als Marguerite sagte, Laura mache ihr Sorgen. Laura? Laura war doch völlig unproblematisch, etwas langsam und schwerfällig, aber gutmütig und immer freundlich.
»Laura macht Ihnen Sorgen? Nicht Marjorie?«
»Mit Marjorie scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Marguerite, »aber Laura... Ist Ihnen aufgefallen, wie unglaublich sie zugenommen hat? Und ständig weiter zunimmt?«
Frances sah sie überrascht an. »Darüber machen Sie sich Gedanken? Ich finde, das ist ein gutes Zeichen. Ich nehme an, die frische Luft und die Ruhe bekommen ihr und regen ihren Hunger an!«
Marguerite schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht, fürchte ich. Was Laura an den Tag legt, ist nicht der gesunde Appetit eines heranwachsenden Menschen. Sie schlingt wahllos alles in sich hinein, dessen sie habhaft werden kann. Das ist nicht normal, Frances. Meiner Ansicht nach steckt eine Eßsucht dahinter, und dies wiederum deutet auf ernstzunehmende seelische Probleme hin.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ich bin keine Psychologin und muß daher mit Diagnosen vorsichtig sein. Andererseits unterrichte ich seit Jahren junge Mädchen und habe vieles beobachten können. Eßstörungen treten häufig in den Entwicklungsjahren auf. Manche werden magersüchtig, essen überhaupt nichts mehr oder führen nach jeder Mahlzeit künstlich ein Erbrechen herbei. Andere werden uferlos dick — so wie Laura.«
»Ach, du
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