Das Haus Der Schwestern
großer Gott«, seufzte Frances.
»Ich könnte mir denken, daß Lauras Probleme mit ihren veränderten Lebensumständen zusammenhängen«, sagte Marguerite. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Frances: Sie sorgen sehr gut für die Kinder. Aber ganz sicher haben beide einen Schock von den Bombennächten davongetragen. Ihr Haus ist über ihnen zusammengestürzt, während sie im Keller kauerten; sie müssen akute Todesangst gehabt haben. Und dann werden sie auch noch von heute auf morgen von ihrer Familie getrennt, kommen zu fremden Menschen, in eine Gegend, die sie nicht kennen. Das ist alles andere als angenehm! Hinzu kommt noch, daß sie sich ständig Sorgen um ihre Eltern machen müssen, die schließlich immer noch dem deutschen Bombardement ausgesetzt sind.« Sie schwieg einen Moment. »Ich weiß jedenfalls sehr gut, wie das ist«, fügte sie dann hinzu. »Ich kenne das alles: das mörderische Heimweh. Die Angst um einen geliebten Menschen. Das Gefühl, ein Bittsteller zu sein. Aber ich bin dreißig, nicht vierzehn. Ich kann anders damit umgehen als Laura.«
»Und was kann ich tun?« fragte Frances ratlos.
»Vielleicht sollten Sie einmal mit ihr sprechen. Ich habe es schon versucht. Aber sie hat es abgeblockt.«
Frances dachte, daß ihr das wirklich noch gefehlt hatte. Sie hoffte, Alice würde anrufen, damit sie die Angelegenheit mit ihr besprechen konnte, doch Alice meldete sich nur sporadisch und war selbst nicht erreichbar. Sie und Hugh hatten Unterschlupf in einer Dachkammer in Mayfair gefunden, »zu eng, um sich darin auch nur um sich selbst zu drehen«, wie Alice berichtet hatte, und sie hatten dort keinen Telefonanschluß. Alice hatte ihre Arbeit verloren, weil das Haus, in dem sich die Kanzlei des Anwalts befunden hatte, von einer Bombe getroffen worden und der Anwalt selbst nach Devon geflüchtet war. Sie nahm jetzt Gelegenheitsarbeiten an und versuchte zwischendurch, in Westhill anzurufen.
Die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Laura ergab sich eines Nachts, als Frances das Mädchen kurz vor ein Uhr in der Speisekammer ertappte. Sie hatte über ihrer Buchführung im Wohnzimmer gesessen und überhaupt nicht bemerkt, wie spät es schon war. Es war eine windige Märznacht, kühl, aber mit einem allerersten Anklang von Frühling in der Luft. Der Wind rüttelte an den Fensterscheiben und machte einigen Lärm, aber trotzdem schrak Frances auf, als sie ein Geräusch hörte, das sie nicht einzuordnen wußte. Es hatte geklungen, als tappten nackte Füße über Stein.
»Meine Güte, wie spät es schon ist«, murmelte sie. Sie stand auf und trat aus dem Zimmer hinaus auf den Gang. Aus der angelehnten Küchentür fiel ein Lichtschein in die Dunkelheit.
Laura hatte nur die kleine Lampe am Fenster angeknipst und die Tür zur Speisekammer weit offen stehen lassen, um zumindest erkennen zu können, was sie aß. Als Frances herantrat, kauerte sie auf dem Fußboden, barfuß und in ihrem weißen Nachthemd, das ihr zu eng geworden war und aus allen Nähten platzen wollte. Vor sich hatte sie eine Schüssel mit Schokoladenpudding stehen, den Adeline für den nächsten Tag vorgekocht hatte. Sie hing darüber wie ein Hund über seinem Futternapf und schaufelte mit bloßen Händen Pudding in sich hinein. Ihre langen Haare fielen immer wieder nach vorne und waren mit Schokolade verschmiert.
»Laura!« rief Frances schockiert. »Was tust du denn da?«
Laura fuhr herum und starrte Frances aus weit aufgerissenen Augen an. Sie sah grotesk aus mit ihrem verschmierten Mund und den verklebten Haaren, mit den Puddingklumpen zwischen allen Fingern. Sie brachte kein Wort hervor.
»Du schlingst ja, als wärst du am Verhungern!« sagte Frances fassungslos. »Und das noch mit den Händen! Konntest du dir nicht wenigstens einen Löffel holen?«
Unbeholfen kam Laura auf die Füße. »Ich . . . es ging zu schnell«, stotterte sie.
»Was ging zu schnell? «
Laura senkte den Kopf. »Ich hatte keine Zeit, einen Löffel zu holen. Es war . . . es ist . . . ich kann dann nicht mehr warten . . .«
Frances fiel ein, daß Marguerite das Wort »Sucht« gebraucht hatte. Offenbar hatte sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Was sich da bei Laura offenbarte, war absolut krankes, suchthaftes Verhalten.
Sie nahm das Mädchen am Arm und führte es aus der Speisekammer in die Küche, drückte es auf die Bank am Küchentisch.
»So, Laura, jetzt setzt du dich erst einmal hin.« Sie verschwand kurz im Flur, kehrte mit einem Paar Hausschuhe
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