Das Haus Der Schwestern
war schon...« Barbara stockte. Laura?
»Sind Sie noch da?« erkundigte sich Laura irritiert.
»Ja ... ja, natürlich. Entschuldigung.«
Sie war wirklich ein Trottel. Heute nacht beim Lesen war sie müde gewesen und heute früh noch verschlafen, und sie hatte tatsächlich bis zu diesem Moment nicht kapiert, daß ihre Vermieterin Laura und die arme, dicke Laura in Frances’ Schilderungen ein und dieselbe Person waren.
Laura Selley, natürlich! 1926 geboren, heute also siebzig Jahre alt, ziemlich genau das Alter, auf das sie die Besitzerin von Westhill auch geschätzt hätte. Es fiel schwer, sich die hagere alte Frau als freßsüchtigen Teenager vorzustellen, aber wer hätte sich das bei ihr selbst, Barbara, vorstellen können? Hatte sie sich nicht erst gestern wegen ihres indiskreten Herumstöberns in Frances Grays Aufzeichnungen damit beruhigt, daß alle Protagonisten dieses autobiographischen Romans ja inzwischen tot seien?
So konnte man sich täuschen. Laura lebte, und sie hatten einander sogar schon gegenübergestanden. Zum erstenmal, seitdem sie angefangen hatte, die so lange verborgene Geschichte zu lesen, begriff sie, was Ralph gemeint hatte, als er sie davor warnen wollte. Sie kam sich plötzlich ein wenig wie ein Voyeur vor.
Sie hatte nicht richtig zugehört, was Laura redete, und fand nun den Faden nicht.
» ... aber Marjorie meint, ich schaffe es sowieso nicht bis dorthin, und nun wollte ich wissen, was Sie denken?«
»Entschuldigen Sie, Laura, ich habe das gerade nicht mitbekommen. Worum geht es?«
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Laura klang alarmiert, mißtrauisch. »Barbara, Sie sind so eigenartig! Stimmt etwas nicht?«
»Es ist alles in Ordnung, wirklich. Ich bin nur noch etwas müde.«
»Ich sagte gerade, daß ich ja vorhatte, am vierten Januar wieder nach Hause zu fahren. Sie wollten an diesem Tag doch abreisen, nicht?«
»Ja. So war es vereinbart.«
»Marjorie—meine Schwester — sagt, wahrscheinlich würde ich es nicht schaffen, anzureisen, und Sie würden nicht wegkommen. Nun wollte ich Ihre Ansicht hören.«
Marjorie. Die widerborstige, jüngere Schwester, die Frances mit feindseliger Ablehnung gegenübergetreten war ...
Ich muß mich endlich auf das Gespräch mit Laura konzentrieren, dachte Barbara.
»Ich denke, bis zum vierten Januar haben sie die Lage hier im Griff«, sagte sie. »Es hat jetzt schon eine ganze Zeit nicht wieder geschneit. Die Hauptstraße ist längst frei, sagt Cynthia Moore. Nur wir hier oben sind noch abgeschnitten.«
»Und es ist wirklich alles in Ordnung?« fragte Laura noch einmal.
»Wirklich. Mit uns und mit dem Haus.«
Barbara fragte sich, ob Laura wohl wußte, daß Aufzeichnungen von Frances Gray existierten. Hatte Laura selbst sie unter den Dielen im Schuppen versteckt? Oder war das noch Frances gewesen — die ihr Geheimnis dann mit ins Grab genommen hatte?
»Machen Sie sich keine Sorgen, Laura«, sagte sie, »wir können ja auch noch telefonieren bis dahin. Ich werde Sie auf dem laufenden halten.«
»Das wäre sehr nett«, sagte Laura. »Auf Wiedersehen, Barbara. Irgendwie kommen die Dinge schon wieder in Ordnung, nicht?«
Damit legte sie auf. Barbara betrachtete nachdenklich den Telefonapparat und fragte sich, was Laura mit ihrem letzten Satz gemeint hatte. Irgendwie kommen die Dinge schon wieder in Ordnung ... Hatte sie vom Schnee gesprochen — oder ging es um etwas anderes, um viel mehr?
»Sie war komisch«, erzählte Laura, »irgendwie anders. Irritiert. Mit den Gedanken woanders ... und gleichzeitig hellwach. Eigenartig. «
»Du kennst diese Frau doch kaum«, sagte Marjorie, »wie willst du überhaupt merken, ob sie anders ist? Du hast sie einmal im Leben gesehen und kurz mit ihr gesprochen. Woher willst du wissen, wie sie normalerweise ist?«
»Man merkt es doch einfach, wenn einem anderen Menschen irgend etwas im Kopf herumgeht«, beharrte Laura. »Dazu muß man ihn nicht kennen. Als sie sich meldete, klang ihre Stimme noch ganz unbefangen. Und plötzlich... ja, genau das ist es. Befangen. Auf einmal klang sie befangen! «
»Du bildest dir etwas ein«, brummte Marjorie.
Sie saß am Küchentisch und studierte die Zeitung. Sie sah ziemlich übernächtigt aus. Laura hatte gehört, daß sie nachts immer wieder aufgestanden und in die Küche gegangen war, sich offenbar ein Glas Wasser nach dem anderen geholt hatte. Natürlich hatte sie das in schwerste Schuldgefühle gestürzt. Sie hatte ihre Schwester zu hart angefaßt am gestrigen
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