Das Haus Der Schwestern
fallen lassen. Sie wandte sich ihrer Schwester zu.
»John war da? Das hast du ja gar nicht erwähnt!«
»Das hatte ich schon wieder völlig vergessen. Ich wollte es nicht verheimlichen.«
Victoria sah aus wie die verkörperte Mischung aus Mißtrauen und Angespanntheit.
»Was wollte er denn hier?«
»Ach, er...«, begann Frances und zerbrach sich verzweifelt den Kopf, was sie sagen sollte. Draußen fiel eine Tür ins Schloß, fast gleichzeitig krachte der nächste Donner.
»Marjorie!« rief Laura.
Marjorie trat ins Eßzimmer. Sie war so naß, wie es ein Mensch überhaupt nur sein konnte. Das Wasser lief ihr aus den Haaren, tropfte von den Wimpern, klebte ihre Kleider gegen den Körper, sickerte aus den Schuhen. Dort, wo sie stand, bildete sich im Nu eine kleine Pfütze.
»Großer Gott, Kind! « rief Adeline. » Du mußt dir sofort trockene Sachen anziehen! «
Marjorie kam näher. Sie hinterließ eine nasse Spur.
»Entschuldigt, daß ich zu spät bin«, sagte sie leise.
Ein Blitz flammte durchs Zimmer. Das Licht der elektrischen Lampe über dem Tisch flimmerte und zuckte.
»Wo bist du gewesen?« fragte Laura. »Frances hat dich schon gesucht!«
Marjorie hob den Kopf. Ihr Blick traf den von Frances. Frances versuchte, in den Augen des Mädchens zu lesen. War es Haß? Schadenfreude? Genugtuung? Sie vermochte es nicht zu entschlüsseln.
Marjorie senkte den Kopf wieder. So tropfnaß, wie sie war, wirkte sie noch kleiner und dünner, und zudem sehr mitleiderregend.
»Ich war... ich war so verstört...«, sagte sie. Noch immer sprach sie so leise, daß sich alle Anwesenden fast die Ohren verrenken mußten, um sie zu verstehen.
»Ich wollte allein sein. Ich ... habe gar nicht bemerkt, daß ... daß es zu regnen anfing.«
»Was hat dich denn so verstört?« fragte Adeline.
»Ich denke, Marjorie muß zuerst ein heißes Bad nehmen und dann gleich ins Bett«, warf Frances ein. »Wenn sie hier noch lange herumsteht, holt sie sich den Tod.«
Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Komm, Marjorie. Ich bringe dich nach oben.«
»Augenblick!« Victoria stand ebenfalls auf. Sie war sehr blaß. »Was hat dich so verstört, Marjorie?« Dann und wann gelang es selbst ihr, eins und eins zusammenzuzählen.
»Können wir die Befragung nicht auf morgen verschieben?« fragte Frances.
»Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf«, murmelte Marjorie.
»Du darfst alles sagen«, ermutigte sie Victoria. Wieder zuckten Blitze, warfen ein schwefelgelbes Licht in das Zimmer.
»Morgen hat Marjorie eine Grippe«, warnte Frances.
»John und Frances...«, piepste Marjorie.
Diese zwei Namen und die Art, wie sie sie hervorbrachte, verhießen Schrecklicheres, als es ein ganzer Satz hätte zum Ausdruck bringen können. Eine düstere Ahnung, ein wilder Verdacht schwebten im Raum. Victoria wurde, wenn das überhaupt möglich war, um eine weitere Schattierung bleicher. Adeline öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder. Laura machte riesige Augen.
» Er klammerte sich an ihr fest«, fuhr Marjorie fort, » er sagte ... er sagte, daß er sie liebt... ich konnte es nicht glauben...« Sie sah Victoria an. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Er war doch Ihr Mann , Victoria«, sagte sie.
Frances tat ein paar rasche Schritte auf sie zu und schlug ihr rechts und links ins Gesicht. Irgend jemand schrie auf. Das Licht über dem Tisch zuckte und verlosch.
Am nächsten Tag sagte Marjorie, sie wolle unter allen Umständen zu ihrem Vater nach London zurückkehren, und Frances meinte, sie halte das für eine ausgezeichnete Idee.
»Es hat keinen Sinn mit uns, Marjorie. Wir kommen nicht miteinander zurecht.«
»Sie werfen mich also raus«, sagte Marjorie, obwohl sie selbst eine Minute zuvor ihren Abschied angekündigt hatte. »Ich muß gehen, weil ich etwas gesehen habe, was ich nicht sehen sollte.«
» Ich denke, du willst weg? Wolltest du das nicht von Anfang an?«
»Allerdings. Und ich bin sehr froh, daß Sie das nun auch endlich begriffen haben.«
Von Laura, die auf dem Bett kauerte und deren Gesicht so grau war wie der regnerische Tag draußen, kam ein Jammerlaut. » Schicken Sie uns nicht weg, Frances! Wir haben nur Sie!«
Marjorie fuhr herum und blitzte ihre Schwester wütend an. »Wir haben noch einen Vater, vergiß das nicht! Unsere Mami ist tot, aber Dad lebt, und er...«
»Er kann nicht für uns sorgen, Marjorie«, sagte Laura leise.
»Du kannst ja hierbleiben! Du liebst das alles hier ja so sehr! Und schließlich hast du
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