Das Haus Der Schwestern
nicht zu Ende. Es war zu ungeheuerlich, unvorstellbar und unaussprechlich.
Diesmal war Frances vorbereitet. Sie sah ihrer Schwester geradewegs in die Augen.
»Nein. Es war nichts während eurer Ehe. Absolut nichts.« Sie wurde nicht einmal rot.
In Victorias Gesicht stritten Mißtrauen und der Wunsch, diese Beteuerung zu glauben, miteinander. Ehe das Mißtrauen siegen konnte, warf Frances ihren Trumpf ins Spiel. Irgendwann mußte es gesagt werden, warum nicht jetzt, da es ihre Haut retten konnte?
Sie stand auf, wobei sie einen Schmerzenslaut unterdrückte; vom langen Sitzen tat ihr der Rücken weh. Seit dem Morgen hatte sie sich kaum bewegt. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte zum Fenster. Es nieselte draußen, und sie wußte, daß das trübe Licht ihr Gesicht alt machte.
»Das mit John und mir«, sagte sie, »kannst du sowieso vergessen. Du weißt ja gar nicht, weshalb er gestern überhaupt kam.«
»Weshalb denn?«
Sie sah zum Fenster hinaus, während sie sprach, so als gebe es dort etwas Interessantes zu sehen, außer dem nassen Gras und den nassen Bäumen im Garten und den Wolken, die die Berge verhüllten.
Fast beiläufig sagte sie: »Er und Marguerite werden heiraten. Dies zu erzählen kam er her. Marguerite erwartet ein Kind.«
Von Victoria kam kein Laut. Frances drehte sich um. Ihre Schwester war kalkweiß im Gesicht. Ihre grauen Lippen bewegten sich kurz, aber es war nichts zu hören.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte Frances ruppiger, als es ihre Absicht gewesen war, »und heule jetzt nicht los. Laura weint schon den ganzen Tag. Ich kann so viele Tränen einfach nicht ertragen.«
In Victorias Bernsteinaugen verlosch etwas. Ein Schimmer, der ihnen Leben verliehen hatte.
»Ich weine ja gar nicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang rauh, es schwang nicht die Spur eines Schluchzens darin.
Am nächsten Morgen brachen Frances und Marjorie in aller Frühe auf. Victoria hatte sich nicht mehr blicken lassen, war weder zum Abendessen noch zum Frühstück erschienen. Auch Laura blieb oben in dem Zimmer, das sie bis zu diesem Tag mit ihrer Schwester geteilt hatte.
Adeline hatte einen ganzen Korb mit Lebensmitteln gepackt. »Das ist für dich, Kind«, sagte sie zu Marjorie, »damit du genug zu essen hast in London. Da soll es ja schlimm sein mit den Rationierungen. Ich habe dir auch einen Marmorkuchen gebacken, den ißt du doch so gern.«
»Danke, Adeline«, murmelte Marjorie.
»Wir müssen gehen«, mahnte Frances. Sie ignorierte Adelines zornige Blicke.
Aber sie fühlte sich elender, als sie es sich anmerken ließ, und als sie und Marjorie endlich im Auto saßen, sagte sie: »Hör zu, Marjorie, wenn du es dir doch noch einmal überlegen willst, dann ...«
»Ich will es mir ganz sicher nicht überlegen«, unterbrach Marjorie, »ich bin froh, endlich von hier wegzukommen!«
Das war die alte Marjorie: patzig, unfreundlich, verletzend. Frances startete den Wagen.
»In Ordnung«, sagte sie.
Sie fuhren mit dem Auto bis Northallerton und nahmen dann den Zug nach London. Er fuhr durchgehend in den Süden, sie mußten nicht in York umsteigen. Es reisten viele Leute mit, und Frances und Marjorie ergatterten mit letzter Not zwei Sitzplätze. Alle sprachen nur über den Krieg, über den Rußlandfeldzug der Deutschen, den manche als Anfang vom Ende, andere als Ausbreitung der nationalsozialistischen Katastrophe werteten. Frances beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Ab und zu musterte sie Marjorie von der Seite. Das Mädchen hatte eine selbstgefällige Miene aufgesetzt und trug eine etwas forcierte Heiterkeit zur Schau.
In Wensleydale hatte es geregnet, doch später zeigte sich der Himmel zwar noch bewölkt; aber es blieb trocken, und ab Nottingham schien die Sonne.
»Das ist auch ein Grund, weshalb ich nie in Nordengland leben möchte«, sagte Marjorie, »dort regnet es immer. Im Süden ist das Wetter viel besser.«
»Immer regnet es auch nicht«, widersprach Frances und ärgerte sich im nächsten Moment, daß sie sich wieder einmal hatte provozieren lassen. Was sollte sie mit Marjorie über das Wetter in Yorkshire streiten? Das Mädchen konnte denken, was es wollte. Es konnte sagen, was es wollte. Sie, Frances, war alt genug, darüberzustehen.
Ein trauriges London empfing sie, düster trotz strahlender Sonne und sommerlicher Hitze. Frances war entsetzt, sehen zu müssen, wie sehr die Stadt unter den Bomben gelitten hatte. Überall zerstörte Häuser. Bei manchen waren nur die Fensterscheiben zersprungen
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