Das Haus Der Schwestern
knipste das Licht an, das von einer nackten Birne an der Decke gespendet wurde.
»Hugh!« rief sie. »Besuch für dich!«
Hinter einer Tür erklang eine dünne Stimme. »Wer?«
»Dich trifft der Schlag«, prophezeite Gwen. Sie öffnete. »Deine Tochter!«
Sie gelangten in einen quadratischen Raum, in dem ein solches Dämmerlicht herrschte, daß sie zunächst kaum etwas sehen konnten. Dann allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie erkannten ein Fenster auf der gegenüberliegenden Seite der Tür, mit einem Lichtschacht davor, durch den Helligkeit als schmaler Streifen floß und irgendwo im Raum versickerte.
Das karge Mobiliar bildeten ein Bett mit zerwühlten Kissen und Decken, zwei Sessel, die mit zerschlissenem, grünem Stoff bezogen waren, und ein flacher Sofatisch, auf dem sich Zeitungen und Zeitschriften stapelten. Hugh Selley saß in einem der Sessel und starrte den Ankommenden entgegen.
»Was?« fragte er.
Frances trat einen Schritt vor. »Mr. Selley, ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich wohnte ja damals in dem Gebäude, in dem Sie Hausmeister waren. Ich war mit Ihrer Frau befreundet — mit Ihrer ersten Frau«, verbesserte sie sich rasch.
Erkennen und Erinnerung dämmerten in seinen Augen. »Frances Gray... «
»Ich habe Ihnen Marjorie mitgebracht, Mr. Selley. Ihre jüngere Tochter. Sie würde gerne zu Ihnen zurückkehren.« Sie zog Marjorie, die in ungewohnter Schüchternheit in der Tür stehengeblieben war, neben sich.
»Daddy!« sagte Marjorie. Ihr Tonfall überraschte Frances. Es hatte etwas darin geklungen, das sie von Marjorie nicht kannte. Rührung? Schmerz? Eine seltsame Ergriffenheit. Erstaunt sah sie zum erstenmal, daß es solche Gefühle gab in Marjorie. Sie hatte Heimweh gehabt, die ganze Zeit über.
Hugh stand auf. Er mußte sich dabei auf der Sessellehne abstützen wie ein alter Mann. Er konnte kaum über sechzig sein, aber er wirkte wie Mitte Siebzig.
»Marjorie!« flüsterte er ungläubig.
Gwen verfolgte die Szene mit mißmutigem Gesicht. »Ich find’s ja komisch, einfach so herzukommen und kein Wort zu sagen vorher«, brummte sie.
»Das ist natürlich nicht besonders höflich«, pflichtete ihr Frances liebenswürdig bei, »aber die Dinge haben sich sehr kurzfristig entschieden.«
Gwen murmelte irgend etwas Unverständliches. Hugh streckte beide Arme aus. Seine Hände zitterten. »Marjorie! « flüsterte er. Sie ergriff seine Hände. Er zog sie an sich, umarmte sie, umklammerte sie förmlich. »Marjorie!«
Er schob sie wieder ein Stück von sich weg, betrachtete sie. »Du siehst aus wie meine Alice. Wie meine Alice!«
Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten erstaunte Frances die Intensität von Gefühlen, an deren Vorhandensein sie immer gezweifelt hatte. Sie hatte gewußt, daß Hugh Alice vergöttert hatte, aber manchmal hatte sie geargwöhnt, er befriedige mit dieser Verehrung vor allem sein eigenes Ego; einen überlegenen Menschen anzubeten mochte ihm das Gefühl gegeben haben, sich selbst ein wenig aufzuwerten. Jetzt, in dieser Sekunde, wurde ihr klar, wie sehr Hugh Alice tatsächlich geliebt hatte. Mit einem Schlag sah sie das ganze Ausmaß der Einsamkeit, in die ihr Tod ihn gestürzt hatte. Sie sah, wie er litt. Sie begriff, weshalb er Gwen geheiratet hatte. In seinem Zustand war er ein gefundenes Fressen gewesen für eine Frau wie sie.
»Warum hast du uns nicht geschrieben, als Mami tot war?« fragte Marjorie. »Warum hast du nicht gesagt, wir sollen zu dir kommen? «
Er hob müde die Schultern. »Ich konnte es nicht. Ich konnte gar nichts mehr. Es war alles so leer...«
»Wir haben hier keinen Platz«, sagte Gwen. »Keine Ahnung, wo die Kleine hin soll!«
Sie stand da wie ein Drache, entschlossen, ihre Welt gegen jeden Eindringling zu verteidigen. Es war klar, daß sie Hugh völlig beherrschte. Sie hatte nicht die geringste Lust, an Einfluß zu verlieren, nur weil plötzlich eine Blutsverwandte aufgetaucht war — Alices Tochter, die noch dazu aussah wie Alice.
»Haben Sie nur das eine Zimmer?« fragte Frances.
»Wir haben noch eine Küche und ein Bad«, sagte Hugh, und es klang fast ein wenig stolz.
Er schlurfte zu einer weiteren Tür, die Frances bislang nicht bemerkt hatte. Dahinter befand sich die Küche —eine Art Verschlag, der sein Licht ebenfalls nur über einen Schacht bekam und der primitiv mit einem eisernen Kohleofen, einem wackeligen Schrank ohne Türen und einem hölzernen Waschfaß eingerichtet war. Es gab
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