Das Haus Der Schwestern
und notdürftig durch davorgenagelte Pappe oder Bretter ersetzt worden. Andere hatten ihr Dach verloren. Aber von vielen war auch nur ein Haufen Schutt und ein leergebranntes, rußgeschwärztes Gerippe aus Mauerresten übrig geblieben, verkohlte Türme, die dunkel und tot in den blauen Himmel ragten.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie es mit verschiedenen Bussen nach Bethnal Green geschafft hatten, eine deprimierende Ewigkeit, in der ihnen auf Schritt und Tritt neue Verwüstungen vor Augen gehalten wurden. Ärmlich gekleidete Menschen, die meisten zu dünn und zu blaß, huschten herum und versuchten, trotz allem irgendeine Art von Normalität zu leben. Häufiger als früher drangen Frances fremde Sprachen ans Ohr, von denen sie nichts oder nur Bruchstücke verstand. Es lebten viele Emigranten aus Deutschland oder den von den Nazis besetzten Ländern Europas in London, deren Verzweiflung ins Herz schnitt. Der Krieg hatte sie hierhergeschwemmt, nun führten sie einen gnadenlosen Kampf um ein Dach über dem Kopf, Essen und Geld — und gegen ihre Schwermut, die vielleicht der schlimmste Feind war.
Wieder einmal wurde es Frances bewußt, wie sehr sie in Leigh’s Dale auf einer Insel lebten. Der Krieg hatte sie dort nie wirklich erreicht. Marguerites Schicksal hatte sie alle bewegt und beschäftigt — und hier blickte sie in die grauen Gesichter von hundert Marguerites, um die sich niemand kümmerte, weil ihr Auftreten in der Masse sie austauschbar machte.
Die Busse hielten sich nicht im geringsten an die Fahrpläne, und es war spät am Tag, als sie Bethnal Green erreichten. Den trostlosen Stadtteil im Osten konnten die Verheerungen des Krieges kaum trauriger erscheinen lassen, als er es schon vorher gewesen war: schmutzigbraune Häuser, heruntergekommene Wohnblocks, enge Straßen, in denen verwahrloste Jugendliche herumlungerten, dann und wann ein Hintergarten, in dem sich Müll aller Art stapelte und in Drahtkäfigen zusammengepferchte Kaninchen ihr hoffnungsloses Dasein fristeten. Auf winzigen, düsteren Balkonen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte, spannten sich Wäscheleinen, und hier und da kämpfte sogar eine müde Topfpflanze ums Überleben.
Die Hitze des Tages lastete über Bethnal Green noch schwerer als über der Innenstadt. In allen Wohnungen standen die Fenster — wenn es denn welche gab — weit offen, und weithin hörte man dudelnde Grammophone, Radiostimmen, Kindergeschrei und wüste Streitereien zwischen Eheleuten, die, gefangen in engen Wohnungen und sozialer Misere, einander nur noch verabscheuten.
»Hier ist es sicher weniger langweilig als in Leigh’s Dale«, bemerkte Frances.
Sie kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem die Adresse notiert war, die ihr Mrs. Parker genannt hatte. Sie war bereits völlig erledigt, naßgeschwitzt am ganzen Körper, und sie spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Was für ein furchtbarer Tag, dachte sie.
Sie hoffte nur, daß sie Mr. Selley nicht in einem Zustand antreffen würde, der es ihr unmöglich machte, ihm das Kind dazulassen — vielleicht war er betrunken oder lag mit einer Hure im Bett. Letztlich mußte sie aber wohl hoffen, daß er überhaupt daheim war. Wenn alle Stricke rissen, gab es noch Mrs. Parker, aber das bedeutete, sie mußten dann wieder durch die halbe Stadt, um zu ihr zu gelangen. Frances betete insgeheim, das möge ihr erspart bleiben.
Sie fragten sich durch, bis sie nach halbstündigen Irr-und Umwegen endlich an das Haus kamen, in dem Hugh Selley wohnte. »Abbruchreif« hatte Mrs. Parker es genannt, und sie hatte nicht übertrieben.
Das Dach des fünfstöckigen Gebäudes fehlte zur Hälfte, im verbliebenen Stück prangten große Löcher dort, wo die Ziegel verschwunden waren. Ein verkohlter Schornstein ragte dazwischen hervor. Auch in den beiden obersten Stockwerken schien ein Feuer gewütet zu haben; es gab hier keine Fensterscheiben mehr, und die Mauern waren schwarz von Ruß. Nach unten hin lebten offenbar noch Menschen in den Wohnungen, wie Wäsche vor den Fenstern und hier und da ein Stück schmuddelige Gardine verrieten. Alles wirkte baufällig, löchrig, krank. Im Winter mußten die Wohnungen eiskalt und feucht sein. Der Sommer machte sie erträglicher, nahm ihnen jedoch nichts von ihrer Trostlosigkeit.
»Marjorie ...«, begann Frances, aber Marjorie fixierte die Ruine mit entschlossenen Augen und unterbrach Frances sofort: »Wir sollten gleich hineingehen.«
Es gab keine Namensschilder an der Haustür, es hing nur
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