Das Haus Der Schwestern
Zeit, alles zu ignorieren, was im Zusammenhang mit dem Krieg stand. Die Rationierungen wurden immer strenger, der Alltag forderte Kraft und Mühe. Sie hatte keine Zeit, sich um etwas anderes zu kümmern als um die Dinge, die unbedingt getan werden mußten. Sie ignorierte aber nicht nur den Krieg, sondern auch die Probleme innerhalb der Familie und sich anbahnende Verwicklungen. Sie war die Ernährerin; die anderen verließen sich darauf, daß sie funktionierte.
Sie verbrachte die meiste Zeit in den Pferdeställen. Nächtelang hielt sie Wache bei einer trächtigen Stute, die in Gefahr stand, ihr Fohlen zu verlieren. Sie war müde und gereizt. Sie hatte eine Reihe von Schafen durch Krankheit verloren. Nichts lief wirklich gut. Sollte sie da noch den Seelendoktor spielen für die Menschen um sie herum?
Laura wurde immer dünner, aber Frances hatte das Problem gewissermaßen in Marguerites Hände gelegt und tröstete sich damit, daß diese schon alles in Ordnung bringen würde. Laura ging zwar jeden Tag nach Daleview hinüber, aber Frances berücksichtigte in ihren Überlegungen nicht, daß Laura mit Marguerite über den Auslöser ihrer Magersucht, ihre verzweifelte Liebe zu Peter, nicht sprechen konnte, und daß Marguerite die entscheidenden Fakten somit nicht kannte. Frances selbst nahm diese »Liebe« ohnehin nicht ernst. Die übliche sehnsüchtige Schwärmerei eines jungen Mädchens für einen gutaussehenden Mann. Eine Phase in Lauras Leben, nichts weiter. Eines Tages würde sie vorbei sein.
Frances übersah, daß nichts üblich war bei Laura. Die Seele des Mädchens war zu sehr verletzt, als daß sie das Leben noch gelassen nehmen, Enttäuschungen abfedern konnte. Laura hatte ihr Bombentrauma nie überwunden, hatte auch den Tod ihrer Mutter nie verschmerzt. Sie litt unter der Trennung von Marjorie, der sie ellenlange Briefe schrieb, obwohl Marjorie nur selten darauf antwortete. Laura krallte sich an die Idee von der großen Liebe zu Peter mit der gleichen fanatischen Inbrunst, mit der sie sich an Westhill klammerte.
Peter mochte Laura und wußte, daß er ihr sein Leben verdankte; aber in seinen Augen war sie ein Kind, und er behandelte sie wie ein großer Bruder seine kleine Schwester. Mit ihren Hungerkuren und neuen Kleidern und mit einem plötzlich erwachten Interesse für anspruchsvolle Literatur mühte sich Laura ab, in seinen Augen zur erwachsenen Frau zu werden. Alles hing jetzt für sie von Peter und seiner Liebe zu ihr ab. Sie war drauf und dran, sich für ihn zu Tode zu hungern.
Victoria indessen schwankte zwischen Euphorie und Lethargie. Sie saß entweder stumm in einer Ecke, oder sie verfiel in so exaltierte Lustigkeit, daß Frances meinte, es kaum aushalten zu können. Sie redete dann ohne Punkt und Komma, lachte laut und schrill und warf ständig den Kopf zurück, daß ihre Haare flogen. Die übrigens trug sie nun zumeist offen, wie ein junges Mädchen. Frances fand das äußerst albern, auch wenn sie zugeben mußte, daß Victoria noch immer eine attraktive Frau war. Aber sie ging auf die Fünfzig zu, und es stieß Frances ab, ihr Getue zu beobachten, ihre Augenaufschläge, ihre wiedererwachte Leidenschaft für Schmuck und Schminke und tief ausgeschnittene Kleider. Stücke, die sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte, zog sie plötzlich wieder an: Gewänder aus Seide und Spitze, die völlig deplaziert wirkten in dem einfachen Farmhaus und die noch aus jenen Tagen stammten, da sie vergeblich versucht hatte, John Leighs Liebe zurückzugewinnen.
Ein bißchen Würde bitte, dachte Frances angewidert, nur ein bißchen Würde!
Aber manchmal ... manchmal war sie nicht angewidert. Es gab auch Momente, da empfand sie etwas von dem alten Neid, der alten Rivalität. Denn wenn Victoria es einmal gerade nicht übertrieb, und nicht aussah wie ein Christbaum, auf den ein Lamettaregen niedergegangen war, wenn ihr einmal nicht die Brüste förmlich aus dem Ausschnitt rutschten und sie nicht gewöhnlich wirkte, dann sah sie tatsächlich schön aus. Dann machten die feinen Kummerlinien in ihrem Gesicht sie interessant, und ihr Haar schimmerte wie Seide. Und mit dem geschärften Blick eines eifersüchtigen Menschen nahm Frances dann auch wahr, daß Peter Victorias Schönheit registrierte und nicht ungerührt davon blieb. Oft verharrte sein Blick länger auf ihr, als es hätte sein müssen; dann fand eine Veränderung in seinem Ausdruck statt, die verriet, daß sie begehrenswert auf ihn wirkte.
Frances verspürte
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