Das Haus Der Schwestern
war, als zerreiße ein Schleier, der auf ihr gelegen und sie geschützt hatte. Die Wirklichkeit war da — grell und schonungslos. Victorias weiche Stimme, ihre Worte ein Messer, das in eine Wunde gestoßen und genüßlich darin umgedreht wurde.
Eine innere Stimme warnte noch. Warnte, sich nicht provozieren zu lassen, vorsichtig zu bleiben. Sie legt es darauf an, daß du die Beherrschung verlierst. Sei jetzt nicht dumm!
»Mein Gott, Victoria«, sagte sie, gleichgültig und etwas gelangweilt. »Es ist wirklich erstaunlich, daß jemand so viele Jahre lang so blind sein kann! Aber das passiert wohl, wenn man unbedingt blind sein will. Es gibt Dinge, denen sieht man nun einmal nicht gern ins Auge.«
Ein Schatten von Unsicherheit flog über Victorias Miene. Ihr Lächeln gefror.
»Was meinst du damit?« fragte sie.
Frances zuckte die Schultern. »Ich meine damit, daß du deine Zeit verschwendest, wenn du mir Johns Qualitäten als Liebhaber schilderst. Es ist überflüssig.«
Das Lächeln schwand.
»Ich verstehe nicht«, sagte Victoria.
Frances ließ ein kurzes, unechtes Lachen hören. »Ich glaube, du verstehst sehr wohl«, entgegnete sie.
Victorias Augen verengten sich. »Vielleicht könntest du deutlicher werden.«
»Wie deutlich hättest du es gern? Willst du genau wissen, wann wir uns getroffen haben? Wo? Was wir taten?«
Victorias Züge entspannten sich. »Du lügst«, sagte sie kühl. »Du willst mir eins auswischen und erfindest wilde Geschichten. Ich glaube dir kein Wort.«
»Dann läßt du es eben bleiben.« Frances wandte sich um und wollte die Schranktüren wieder schließen. Peter würde natürlich wiederkommen. Es würde ihn ärgern, wenn er erführe, daß sie in seinem Schrank herumgestöbert hatte.
Sie sah die Pistole unter einem der Pullover hervorragen, und im ersten Moment starrte sie sie nur verblüfft an. Wieso lag sie hier ? Sie hatte sie doch in ihrer Kommode versteckt, tief unter ihrer Wäsche. Ihr fiel nur ein Mensch ein, der sie hierher gebracht haben konnte, und das war Peter. Er hatte seine Waffe wiederhaben wollen. Irgendwie konnte sie das verstehen, aber es enttäuschte sie. Er mußte danach gesucht haben. Der Gedanke, wie er ihr Zimmer durchwühlt hatte, machte sie ärgerlich.
Er hätte fragen können, dachte sie.
»John hätte sich nie mit einer wie dir getroffen«, sagte Victoria verächtlich. »Ich weiß ja, wie wütend er war, weil du bei den Suffragetten mitgemischt hast und im Gefängnis warst. Er fand dich nur noch peinlich!«
»Wie gesagt, du kannst denken, was du möchtest.«
Hör an diesem Punkt auf, warnte die innere Stimme wieder, sie glaubt dir nicht! Sei froh und belasse es dabei!
»Allerdings«, fuhr sie fort, »solltest du einmal an Marjorie denken. Und was sie über mich und John sagte.«
Victorias Gesichtsausdruck spiegelte eine schnelle Abfolge widersprüchlicher Gefühle und Ahnungen wider.
»Marjorie?« fragte sie.
»Im letzten Jahr. Im August. Du wirst den Abend kaum vergessen haben. Sie hatte John und mich in der Küche überrascht und mußte natürlich herumtrompeten, was sie gehört hatte.«
»Du hast gesagt...«
»Ich wollte keinen Streit. Tatsache ist«, sie drehte sich um und sah ihre Schwester an, »daß wir mehr als zwanzig Jahre lang ein Verhältnis hatten.«
Victoria wurde noch bleicher als vorher. »Seit wann?« flüsterte sie.
»Seit 1916. Es begann in Frankreich. In einem Dorf am Atlantik. Er erholte sich dort, und ich ...«
»Das ist nicht wahr.«
»Glaub es oder glaub es nicht.«
Aus Victorias Kehle klang ein gurgelndes Geräusch, sie preßte die Hand auf den Mund und schien zu würgen. Mit geschlossenen Augen kämpfte sie den Brechreiz nieder, der sie überfallen hatte. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand glasklarer Haß in ihnen.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie ruhig, »und bei der Polizei Anzeige erstatten. Ich werde melden, daß wir seit mehr als einem halben Jahr einen deutschen Spion hier versteckt halten, der überdies einen Mord begangen hat.«
»Das tust du nicht«, erwiderte Frances, »du würdest Peter nie ans Messer liefern.«
»Da täuschst du dich.« Sie wandte sich zur Tür.
»Du hängst mit drin, Victoria! Sei nicht dumm. Dich werden sie genauso verhaften wie uns andere.«
Victoria lächelte. »Ich habe ja nichts zu verlieren.«
»Deine Freiheit.«
Victoria schüttelte den Kopf. »Die bedeutet mir nichts.«
Sie ging zielstrebig aus dem Zimmer.
Frances war jetzt wieder ganz klar. Ihre Gedanken
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