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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Augen vergessen. Und nie den Anblick ihres zu einem tonlosen Schrei geöffneten Mundes.

Samstag, 28. Dezember 1996
    Barbara starrte zum Fenster hinaus, ohne etwas anderes zu sehen als Dunkelheit. Das Licht im Zimmer hatte sie gelöscht, so daß sie nicht einmal ihr Spiegelbild erkennen konnte. Erst als sie schließlich aufstand und dicht an das Fenster trat, sah sie den Schnee. Der Lichtschein, der aus all den anderen Räumen fiel, ließ ihn hell glänzen. Es hatte aufgehört zu schneien, wie sie bemerkte. Die Nacht war friedlich und still.
    Es ist doch noch gar nicht Nacht, korrigierte sie ihre Gedanken. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel vor sieben. Zeit fürs Abendessen. 0 Gott, bloß nicht an Essen denken!
    Sie fühlte sich schockiert und durcheinander. Es hatte sie wie ein Hammerschlag getroffen, von Victorias Tod zu lesen — von ihrer Hinrichtung, wie sie im ersten Moment gedacht hatte, denn sie fand, es las sich wie die Beschreibung einer Exekution.
    Alles, was danach kam, hatte sie nur noch überflogen: wie Frances und Laura die Leiche über den Hof zur Garage schleppten und dann mit Wasser und Lappen dem Blut, das nun doch noch floß, zu Leibe rückten. Wie Peter schließlich wiederkam und mit fassungslosem Entsetzen hörte, was geschehen war. Er half den beiden Frauen, Victoria im Whitaside-Moor zu vergraben, irgendwo in der Nähe der Old Lead Mines. Es war eine helle, warme Nacht gewesen, und sie waren ohne Laternen ausgekommen. Um Victoria im Auto transportieren zu können, hatten sie sie in Decken gewickelt.
    Damals, 1943, konnte man derart dilettantisch verfahren. Heute, dachte Barbara, würde es wohl eine Ermittlung geben, wenn eine Frau spurlos verschwand. Und natürlich würde man irgendwelche Fasern und Haare im Auto finden, und auch in der Garage, wo sie den Abend über gelegen hatte. Aber zu jener Zeit gab es noch keine allzu raffinierten Methoden in der Spurensicherung. Und außerdem hatte auch gar keine Untersuchung stattgefunden.
    Wie hatte Cynthia gesagt? »Wir hatten zu viele andere Sorgen. Der Krieg eben ... Und irgendwann war die Geschichte sowieso vergessen.«
    Ein paar Stunden erst war es her, seit sie mit Cynthia darüber gesprochen hatte. Und nun kannte sie das Geheimnis und vermochte es kaum zu glauben.
    Victoria war nicht fortgegangen. Victoria war ermordet worden. An einem Aprilabend des Jahres 1943, hier in diesem Haus, in dieser Abgeschiedenheit, in der ein Mensch erschossen werden konnte, ohne daß es jemand bemerkte.
    Sie hatten einen ganzen Stapel Wäsche und Kleider von Victoria verbrannt; denn noch in derselben Nacht einigten sie sich auf die Version, Victoria sei auf und davon gegangen, mitsamt einem Koffer, der ihre notwendigsten Kleidungsstücke enthielt. Am Tag, als Johns Sohn geboren wurde. Jedem war bekannt, wie sehr Victoria unter ihrer Kinderlosigkeit gelitten hatte.
    Drei Menschen wußten von dem Verbrechen.
    »Frances, Laura und Peter«, murmelte Barbara in die Dunkelheit hinein. Peter war eine Woche später aufgebrochen, zurück nach Deutschland. Sie hatten nie wieder von ihm gehört.
    » Keine Karte nach Kriegsende, kein Anruf, nichts «, schrieb Frances, »vieles spricht dafür, daß er nicht lebend daheim angekommen ist.«
    Frances selbst war ebenfalls tot. Sie hatte sich ihre Geschichte von der Seele geschrieben und war danach gestorben. Barbara dachte an die letzten Sätze ihrer Aufzeichnungen:

    »Ich denke oft an Victoria, die da draußen im Moor liegt. Immer, wenn der Frühling wiederkommt, wenn alles gelb wird von den herrlichen Narzissen, wenn die Wiesen voll sind mit jungen Lämmern, dann frage ich mich, ob es notwendig war. Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben. Ich weiß, daß ich damals glaubte, Victoria nicht anders aufhalten zu können. Aber womöglich wollte ich, irgendwo tief in mir, auch nichts anderes glauben.
    Peter hat das Buch hier vergessen, das ihm Victoria an jenem Weihnachtsabend 1942 geschenkt hat. Er dankte ihr damals für die Widmung, die sie ihm vorne hineingeschrieben hatte. Jetzt habe ich sie gelesen. Es sind Zeilen von George Augustus Moore:
    Im Herzen jedes Menschen ist ein See ...
und er lauscht seinem monotonen Flüstern
Jahr um Jahr immer aufmerksamer,
bis er schließlich ermattet .

    Rätselhafte Victoria! Wenn ihr dieses Gedicht so nahegegangen ist, daß sie es dem Mann aufschrieb, der ihr soviel bedeutete — nämlich Rettung vor der inneren Einsamkeit—, dann gab es etwas in ihr, wovon ich nichts

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