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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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jagten. Würde Victoria wirklich zur Polizei gehen? Peter konnte zurückkommen und den Beamten in die Arme laufen. Es stand jetzt fest, daß er nicht für immer gegangen war, nicht ohne seine Waffe, und ...
    Die Pistole! Sie fuhr herum, schnappte sie sich, stürmte aus dem Zimmer. Victoria stieg gerade die Treppe hinunter. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin.
    »Mach keinen Unsinn, Victoria!« rief Frances, über das Geländer gebeugt.
    Victoria ging weiter.
    Sie wird uns doch nicht alle um Kopf und Kragen bringen, dachte Frances fassungslos.
    Sie rannte hinter ihrer Schwester her, die Treppe hinab. »Victoria! « schrie sie.
    Es war, als höre Victoria sie überhaupt nicht. Frances erreichte sie schließlich und packte sie am Arm.
    »Victoria! Indem du jetzt unser aller Leben zerstörst, änderst du nichts an dem, was geschehen ist! Überhaupt nichts!«
    Victoria schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt.
    Und plötzlich wußte Frances, daß sie es tatsächlich tun würde. Sie würde zur Polizei gehen. Sie konnte es an ihrem aufrechten Gang erkennen, an der Art, wie sie ihre Schultern hielt, an der unnatürlichen Steifheit des Nackens, an dem kranken Glanz der Augen. Dieser Tag hatte Victoria den Todesstoß versetzt: Johns Kind war zur Welt gekommen, Peter hatte sie zurückgewiesen, Frances hatte behauptet, ein Verhältnis mit John gehabt zu haben. Es war ihr gleichgültig, was nun geschah. Sie hatte keine Angst, ins Gefängnis zu müssen. Sie hatte keine Angst, Westhill zu verlieren. Innerlich gebrochen, bewegte sie sich auf die Haustür zu.
    Frances stand am Fuß der Treppe. »Victoria, ich warne dich, bleib stehen! Bleib sofort stehen!«
    Victoria öffnete die Tür.

    Als ich schoß, geschah das nicht aus einer Überlegung heraus. Ich glaube nicht einmal, daß ich mir etwas dabei gedacht hatte, als ich zuvor die Waffe aus Peters Schrank genommen hatte. Ich fühlte mich wie ein Tier, dem ein Instinkt eingibt, sein Leben zu retten. Das von nichts anderem beherrscht wird als von der nackten Angst um seine Existenz. Nichts in mir wollte Victoria töten in diesem Moment. Ich empfand keinerlei Befriedigung. Sosehr ich sie immer gehaßt hatte, so neidisch und eifersüchtig ich gewesen sein mochte — als ich im Dämmerlicht des Hausflurs stand und schoß, war nichts von diesen uralten, bösen und zersetzenden Gefühlen in mir. Wo war der Haß auf meine Schwester, der an jenem lang vergangenen Tag gesät worden war, an dem unser Vater ihr den Namen einer Königin gab? Er hatte sich in nichts aufgelöst. Was Neid ist, wußte ich nicht mehr. Die Eifersucht hatte sich verkrochen und grinste mich zum erstenmal in meinem Leben nicht mehr höhnisch an. Alles war ausgelöscht, als sei eine Flutwelle durch mich hindurchgelaufen, habe allen Ballast mitgenommen und mich befreit.
    Alles, was in mir existierte, war der Gedanke: Ich gehe nicht ins Gefängnis. Adeline und Laura auch nicht. Ich lasse es nicht zu, daß sie Peter aufhängen. Und ich lasse mir Westhill nicht nehmen. Um nichts in der Welt! Es ist das einzige, was ich habe, und eher töte ich, als daß ich es hergebe.
    Der Schuß traf sie in den Rücken. Sie brach in die Knie und verharrte so für ein paar Sekunden. Es sah aus, als kniete sie in einer Kirche und spräche ein Gebet.
    Dann erst fiel sie langsam vornüber, und da sie die Haustür zuvor bereits geöffnet hatte, ruhte ihr Kopf nun auf den Stufen, die zum Hof führten, während ihr Körper im Flur lag. Ein Zucken durchlief sie. Das war der Augenblick, in dem sie starb.
    Ich starrte sie an und fragte mich, warum ihre Füße so verdreht lagen. Sie hatte Krampfadern hinten an den Waden, noch nicht deutlich, aber unverkennbar. Ich hatte das nie zuvor bemerkt. Aber ihre Figur war so zart und schlank, wie sie es immer gewesen war. Sie trug ein schönes Kleid. Ihre Haare ergossen sich wie eine goldene Flut rings um ihren Kopf über die Steine.
    Da war kein Blut, nicht die Spur von Blut. Nur ein dunkler Fleck auf ihrem Rücken, wo die Kugel eingedrungen war, aber nichts auf dem Boden, nichts an den Wänden.
    Die Waffe entglitt meinen Händen und krachte auf den Fußboden. Ich dachte: Wohin jetzt damit, wohin? Und meinte die Leiche meiner Schwester.
    Die Leiche meiner Schwester.
    Bevor meine Knie weich wurden und ich dem Bedürfnis, mich fallen zu lassen, nachgeben konnte, vernahm ich ein Geräusch von oben. Langsam wandte ich den Kopf.
    Laura neigte sich über das Geländer. Nie werde ich das Entsetzen in ihren

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