Das Haus Der Schwestern
wußte.
Aber gibt es das nicht in jedem Menschen? Etwas, wovon keiner etwas weiß und das sich vielleicht nur in einem Moment enthüllt, in dem seine äußeren Schichten von ihm abfallen. Einem Moment der großen Traurigkeit. Der Verzweiflung. Der Sehnsucht. Oder in einem Moment der Liebe.
Ich versuche, an meine Schwester Victoria in Liebe zu denken.
Manchmal gelingt es mir.«
Eine einzige Zeugin der Tat gab es noch. Laura. Die ängstliche, alte, verhuschte Laura.
Nicht Zeugin, verbesserte sich Barbara. Man hätte sie sogar wegen Mittäterschaft anklagen können. Sie hat geholfen, die Leiche fortzuschaffen, die Spuren zu verwischen. Andererseits, sie war damals sechzehn Jahre alt, psychisch labil...
Im Geiste begann sie bereits ein Plädoyer aufzubauen, schüttelte diese Gedanken dann aber ab. Darum ging es nicht. Laura stand nicht vor Gericht. Nach über fünfzig Jahren wäre das ohnehin eine absurde Vorstellung. Diese biedere, ältliche Frau. Und Mord!
Immerhin hatte Frances sie gut entlohnt. Hatte ihr alles vererbt. Doch wem hätte sie es andererseits sonst geben sollen?
Barbara wandte sich vom Fenster ab, schaltete das Licht im Zimmer wieder ein. Ihr war plötzlich unheimlich zumute, und sie ärgerte sich darüber. Nur weil sie jetzt wußte, daß vor mehr als einem halben Jahrhundert eine Frau in diesem Haus erschossen worden war — und das fast in einem Akt der Notwehr. Sie konnte sich vorstellen, wie Richter und Staatsanwalt die Stirn runzeln würden, wenn sie mit Notwehr käme. Strafrechtlich nicht haltbar. Sie lachte und erschrak vor der Hysterie, die in ihrem Lachen mitschwang.
Ralph , dachte sie.
Sie wünschte, sie wäre nicht allein in diesem großen Haus. In dieser völligen, weltabgeschiedenen Einsamkeit. Sie kniete vor dem Kamin nieder, klaubte die verstreut umherliegenden Blätter zusammen, legte sie ordentlich auf einen Stapel.
Na, was fürchtest du? fragte sie sich spöttisch. Daß Victorias Geist aus dem Moor aufsteigt und hierherkommt, um ein wenig herumzuspuken?
Sie stand auf, verließ das Zimmer, um in die Küche hinüberzugehen. Als sie den Flur durchquerte, ergriff sie ein Kälteschauer, in dem alle ihre Härchen am Körper sich aufrichteten. Das kam von der eisigen Luft, die durch die Ritzen der alten Haustür hereinkroch. Wovon sollte es sonst kommen?
Sie wandte den Kopf. Dort, am Fuß der Treppe, hatte Frances gestanden. Hier vorne, direkt vor der geöffneten Tür, Victoria. Dort oben — sie sah hinauf — hatte sich eine schreckensbleiche Laura über das Geländer gebeugt.
»Das ist mehr als dreiundfünfzig Jahre her«, sagte Barbara laut.
Sie lief in die Küche und setzte Teewasser auf. Dann dachte sie, daß Tee das letzte war, was sie jetzt brauchte, und schaltete den Herd wieder aus. Sie nahm die Brandyflasche vom Regal und tat einen tiefen Schluck. Einen zweiten. In ihrem ausgehungerten Magen brannte der Alkohol wie Feuer. Eine Sekunde lang dachte sie, ihr würde schlecht, aber das Gefühl verging sofort wieder. Sie spürte einen leichten, angenehmen Schwindel im Kopf.
Als das Telefon schrillte, hätte sie fast die Flasche fallen lassen, so sehr erschrak sie. Ihre Hände zitterten.
»Meine Güte!« rief sie ärgerlich. »Du bist ein richtiger Angsthase, Barbara. Das ist sicher Ralph!«
Sie hastete ins Wohnzimmer, die Brandyflasche immer noch in der Hand.
»Ja?« meldete sie sich atemlos. »Ralph?«
»Hier ist Marjorie Selley«, sagte eine kühle Stimme. »Ich bin die Schwester von Laura Selley.«
O natürlich, Sie sind Marjorie , hätte sie beinahe gesagt, aber ihr fiel ein, daß sie im Grunde nichts über diese Frau wissen durfte.
»Ja, Miss Selley?« fragte sie.
»Ich nehme an, Sie sind die Mieterin? Ich rufe nur an, weil ich mir Sorgen um meine Schwester mache.«
»Ist sie denn nicht bei Ihnen?«
»Sie ist heute vormittag abgereist. Sie wollte nach Hause.«
»Aber wir haben das Haus noch für eine weitere Woche gemietet.«
»Ich weiß. Aber Laura macht sich wegen irgend etwas schreckliche Sorgen.«
»Wegen des Schnees? Am Haus ist nichts kaputtgegangen«, versicherte Barbara. »Hier ist alles in Ordnung!«
Bis auf den Umstand, daß mein Mann da draußen herumirrt und ich kein Lebenszeichen von ihm habe, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Wissen Sie, meine Schwester erträgt es einfach nicht, von daheim fort zu sein«, sagte Marjorie, und in ihrer Stimme schwangen Unverständnis und Mißbilligung. »Jedesmal sitzt sie hier wie ein Häufchen Unglück, wenn
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