Das Haus Der Schwestern
aus seinen Sachen zu schälen. Er zog die Mütze vom Kopf und strich sich die dunklen Haare zurück. »Die Tür war offen, und ...«
Der Satz blieb unvollendet, als habe er mit den wenigen Worten eine ausreichende Erklärung für seinen Besuch gegeben. Er ließ einen großen Rucksack von seinen Schultern gleiten, den Barbara zuerst gar nicht bemerkt hatte. Aufatmend stellte er ihn auf den Boden.
»Meine Güte, ist der schwer!« sagte er.
Barbara fand endlich ihre Sprache wieder. »Wo kommen Sie denn jetzt her?« fragte sie.
»Von daheim. Ich bin auf Skiern herübergerutscht. Zum Glück ist Ihr Haus erleuchtet wie ein Christbaum, so konnte ich mich schon von weitem orientieren. Insgesamt habe ich aber mindestens die dreifache Zeit gebraucht, die ich im Sommer zu Fuß benötige.«
»Wieso?«
»Wieso ich soviel Zeit gebraucht habe? Nun, es ist ...«
»Nein, ich meine: Wieso besuchen Sie uns bei diesem schrecklichen Wetter?«
Er deutete auf den Rucksack. »Sie erinnern sich an unsere kurze Begegnung vor Weihnachten in Cynthias Laden? Ich bekam dabei mit, daß Sie kaum genug einkauften, um einen Spatz zu füttern. Dann überfiel uns ja bereits der Schnee. Überdies kenne ich die gute, alte Laura Selley. Sie würde nie Vorräte zurücklassen, wenn sie fortgeht. Also dachte ich mir, Sie und Ihr Mann seien inzwischen sicher ganz schön hungrig.«
Barbara spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie deutete auf den Rucksack. »Sie meinen, da ist etwas zu essen drin?« fragte sie mit rauher Stimme.
»Genug, um eine Fußballmannschaft satt zu bekommen«, sagte er mit einigem Stolz.
Er hängte seinen Anorak an die Garderobe. Darunter trug er einen naturweißen Pullover aus dicker Schafwolle und ein Paar uralte Jeans. Er sah Barbara an, streckte die Hand aus und berührte flüchtig ihr Kinn. »Was haben Sie denn da gemacht?«
Sie hatte vergessen, daß ihr Kinn noch immer schillerte wie ein Regenbogen.
»Ich bin gestürzt«, erklärte sie.
In seinen Augen lagen Zweifel, und ihr fiel ein, daß genau so die gängige Ausrede seiner Frau lautete, wenn sie die blauen Flecken und Schrammen in ihrem Gesicht zu erklären versuchte.
»Das war nicht mein Mann«, sagte sie etwas spitz, »ich bin wirklich gefallen.«
Fernand Leigh lachte. »Habe ich Ihren Mann verdächtigt? Hören Sie, Barbara, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich hier für eine Stunde ausruhe? Ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich kaputt.«
»Bleiben Sie, solange Sie möchten. Stört es Sie, wenn wir gleich in die Küche gehen ... ? «
Nun, da die Aussicht auf Essen in greifbare Nähe gerückt war und Barbara nicht länger mit eiserner Willensstärke jeden Gedanken an Nahrung beiseite schieben mußte, brach der Hunger wie ein unkontrollierbarer Feind über sie herein. Ihr Magen krampfte sich wütend und fordernd immer wieder zusammen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ließ sie vibrieren. Mit vor Gier zitternden Fingern packte sie den Rucksack aus und kam sich vor wie ein Mensch, vor dem sich unerwartet das Paradies auftut. Nie zuvor hatte sie in diesem Ausmaß das Gefühl gehabt, auf ein einziges Bedürfnis reduziert zu sein: aufs Essen. Sie hätte Fernand die Füße küssen mögen.
Auf dem Küchentisch türmten sich Brot, Butter, Käse und Schinken, Eier, kalter Braten, ein paar Konservendosen mit verschiedenen Fertiggerichten, ein großer Salatkopf, Tomaten, Avocados, Nüsse und Früchte und ein Plumpudding. Zum Schluß zog Barbara noch zwei Flaschen Wein hervor.
»Lieber Gott«, sagte sie ehrfürchtig.
Er sah sie lächend an. »Wir sollten es uns richtig schön machen«, meinte er, »wo sind Teller und Besteck?«
Sie mußte lachen. »Sie haben mir angesehen, daß ich mich eben am liebsten mit Zähnen und Klauen über das Essen hergemacht hätte, stimmt’s?«
»So ungefähr«, bestätigte er. Er nahm eine Kerze von einem Regal und stellte sie auf den Tisch. »Wo ist denn eigentlich Ihr Mann?« fragte er beiläufig.
Aus irgendeinem Grund hatte sie sich zunächst gescheut, ihm zu sagen, daß sie allein war. Nun mußte sie jedoch mit der Wahrheit herausrücken — und fand sich ohnehin plötzlich albern wegen ihrer Vorbehalte.
»Mein Mann ist heute früh nach Leigh’s Dale aufgebrochen«, erklärte sie, »er wollte Vorräte kaufen. Wir konnten ja nicht ahnen, daß...« Sie machte eine Handbewegung, die den Tisch mit all seinen Herrlichkeiten darauf umfaßte.
»So, wie es draußen aussieht«, sagte Fernand, »wird er heute wohl kaum noch
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