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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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irgendwo zwischen Büschen und Bäumen knien und in der Erde graben zu sehen. Sie hatte einmal gesagt, das sei ihre Art, mit den Problemen und Sorgen des Alltags fertig zu werden. »Wenn ich Erde zwischen den Fingern fühle, wenn ich sehe, daß eine neue Knospe sich entfaltet hat, wenn ich den Duft der Rosen rieche, dann lösen sich meine Sorgen so schnell in Luft auf, daß ich gar nicht mehr verstehe, warum ich einen Moment vorher noch so bedrückt war!«
    Frances vermochte Maureen in dieser Hinsicht nicht nachzueifern, denn sie haßte es, auf den Knien zu rutschen und mit schmerzendem Kreuz gegen das Unkraut zu Felde zu ziehen. Trotzdem begriff sie, was in Maureen vorging, denn auf eine andere Weise gab ihr das Land ebensoviel Kraft wie Maureen.
    Sie setzte sich auf die weißgestrichene Bank unter einem der Kirschbäume und öffnete den Brief. Eine Karte fiel ihr in den Schoß, auf der John in seiner geschwungenen Schrift eine Nachricht für sie verfaßt hatte.
    »Liebe Frances«, las sie, »ich möchte heute am späteren Nachmittag unbedingt mit Dir sprechen. Wollen wir zusammen ausreiten? Ich bin gegen fünf Uhr bei Dir.«
    »Jetzt möchte ich wirklich wissen, was er will«, murmelte Frances. Sie hob den Kopf und entdeckte ihre Schwester Victoria, die den Gartenweg entlang auf sie zukam. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, Johns Brief in ihrer Rocktasche verschwinden zu lassen.
    »Hallo, Frances! Ich habe dich schon gesucht! Warum sitzt du hier herum?« rief sie.
    »Und warum bist du überhaupt schon da?« fragte Frances. »Seit wann lassen sie euch bei Miss Parker so früh ins Wochenende? Zu meiner Zeit war das, weiß Gott, anders!«
    »Es grassiert der Keuchhusten in der Schule«, erklärte Victoria, »wir dürfen für mindestens zwei Wochen überhaupt nicht wiederkommen! «
    »Warum hatte ich nur nie soviel Glück«, sagte Frances mißgünstig. »Bei uns gab es nie Keuchhusten oder etwas Ähnliches. Hoffentlich hast du dich nicht schon angesteckt!«
    »Ich glaube nicht. Ach, es ist wirklich schön, plötzlich Ferien zu haben!«
    »Das glaube ich dir«, meinte Frances, aber sie war ganz sicher, daß dieses unerwartete Geschenk für Victoria nicht das gleiche bedeutete, was es früher für sie, Frances, bedeutet hätte. Victoria ging keineswegs ungern in Miss Parkers Schule. Sie liebte es, mit den anderen Mädchen herumzugackern, sie steckte durchaus gerne in der steifleinenen Schuluniform, in der sich Frances immer wie ein Häftling vorgekommen war. Sie war keine besonders gute Schülerin, brillierte aber im Gesangsunterricht und beim Nähen. Miss Parker nannte sie »eine meiner liebsten Schülerinnen« und ließ ihr jede Menge Privilegien zukommen. Frances hatte die Gedanken der alten Lehrerin immer an deren Stirn ablesen können: Wie gibt es das nur, daß zwei Schwestern so verschieden sind!
    Und wer die beiden jetzt gesehen hätte, wäre derselben Ansicht gewesen. Mit ihren fast fünfzehn Jahren sah Victoria wie eine entzückende Puppe aus. Nichts war zu bemerken von der Formlosigkeit, unter der Frances in diesem Alter gelitten hatte. Sie ähnelte stark ihrer Mutter, hatte deren goldene Farben, ihr hübsches Lachen, die gleiche samtene Stimme. Sie war immer süß, immer niedlich gewesen, jeder hatte sie verwöhnt und verhätschelt, ihr jeden Wunsch erfüllt. Als winziges, rosiges, pummeliges Baby hatte sie die Leute zu Begeistungsausbrüchen hingerissen. Jeder wollte sie halten, streicheln, an sich drücken. Frances, bei Victorias Geburt zwei Jahre alt, war wach und intelligent genug gewesen, dies durchaus zu registrieren und voll schmerzhafter Eifersucht zu beobachten. Maureen erzählte ihr später, sie selbst sei ein ganz anderes Baby gewesen, erschreckend mager, aber sehr zäh und von einer ungeheuren Entschlossenheit, alles schneller und früher zu können als andere Babys. Greifen, Krabbeln, Laufen — mit allem begann sie außergewöhnlich früh und übte so lange voller Verbissenheit, bis sie es konnte.
    Maureen hatte es nie so deutlich ausgesprochen, aber auch so war es Frances klar, daß die Menschen von ihr nie so entzückt gewesen waren wie von Victoria. Ihr Vater hatte seiner jüngsten Tochter den Namen der von ihm verehrten Königin Victoria gegeben, und erst viel später war Frances der Gedanke gekommen, wie eigenartig es war, daß nicht sie als erstgeborene Tochter auf diesen Namen getauft worden war. Aber offenbar war ihm dieser Gedanke beim Anblick des mageren Babys mit den zu hellen

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