Das Haus Der Schwestern
blauen Augen, das Maureen in März des Jahres 1893 zur Welt gebracht hatte, nicht gekommen. Erst die hinreißende, pausbäckige Tochter, die man ihm zwei Jahre später in die Arme gelegt hatte, wurde von ihm für würdig befunden, den Namen der großen Regentin zu tragen.
An diesem Maitag hatte Victoria ein knöchellanges, dunkelblaues Matrosenkleid an, trug dunkelblaue Schnürstiefel und eine hellblaue Schleife in den langen, dunkelblonden Haaren, die wie Honig in der Sonne glänzten und sich leicht wellten.
Noch zwei oder drei Jahre, dachte Frances, und die Männer rennen uns hier ihretwegen die Tür ein!
»George ist übrigens auch angekommen«, sagte Victoria, »vor fünf Minuten. Mit einer Mietkutsche aus Wensley.«
»George? Was will der denn?« Ihr Bruder besuchte in Eton die Schule und kam nur in den Ferien nach Hause.
»Er hat jemanden mitgebracht.«
»Einen Freund?«
»Eine Frau!« betonte Victoria. »Sie sieht ganz gut aus, ist aber irgendwie eigenartig.«
Eine Frau. Das klang interessant. Von allen Menschen auf der Welt war es wohl George, ihr großer Bruder, den Frances am meisten liebte und bewunderte. Er war auch der einzige Mensch, dem sie praktisch kritiklos gegenüberstand.
George war gutaussehend, klug, feinfühlig, charmant ... sie hätte ihn mit unendlich vielen schtneichelhaften Attributen schmücken mögen. George würde in diesem Jahr seinen Abschluß in Eton machen. Wenn er mitten in seinen Prüfungsvorbereitungen bis hinauf nach Yorkshire fuhr, vermutlich für nicht mehr als ein oder zwei Tage, und dann noch eine Frau dabeihatte, konnte Frances eins und eins zusammenzählen. Er wollte das Mädchen der Familie vorstellen. Das sah nach einer ernsten Geschichte aus.
»Warum sagst du das nicht gleich?« fragte sie und stand auf. »Wo sind die beiden jetzt? Ich will George begrüßen!«
Und diese Frau unter die Lupe nehmen, dachte sie.
George stand vor dem Haus und konnte sich kaum der zweijährigen Mischlingshündin Molly erwehren, die ihn stürmisch umkreiste und immer wieder laut bellend an ihm hochsprang, außer sich vor Begeisterung über seine Rückkehr. Es schien, als wisse sie genau, daß sie George ihr Leben verdankte. Als halbtotes Bündel Elend hatte er sie zwei Jahr zuvor an einem dunklen, kalten Herbstabend am Straßenrand gefunden. Er hatte Ferien gehabt, und während dieser zwei Wochen war er jede Nacht immer wieder aufgestanden, um das winzige Tier mit Milch und Eigelb zu füttern. Wann immer George fortmußte, kam es zu einem herzzerreißenden Abschied, und wenn er zurückkehrte, verlor Molly fast den Verstand vor Glück.
»George!« rief Frances schon von weitem, dann rannte sie auf ihn zu und fiel ihm in die weit geöffneten Arme. Sie schloß die Augen. Er roch so gut! Er fühlte sich so gut an!
Sie hörte ihn lachen, zärtlich und leise. »Manchmal weiß ich nicht, wer sich mehr freut, mich zu sehen, du oder Molly? Auf jeden Fall fühle ich mich davon sehr geschmeichelt.«
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn an. »Bleibst du länger?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hätte eigentlich überhaupt nicht weggedurft. Ich müßte jede Minute büffeln. Aber...« Er sprach nicht weiter, sondern blickte zur Seite, und Frances, die seinem Blick folgte, sah eine junge Frau, die an Mrs. Maynards Automobil gelehnt dastand, nun aber auf die Geschwister zukam.
»Alice, darf ich dir meine Schwester Frances vorstellen?« fragte George.
»Frances, das ist Miss Alice Chapman.«
»Guten Tag, Frances«, sagte Alice. Sie hatte eine tiefe, warme Stimme. » Ich habe viel von Ihnen gehört. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. «
Frances reichte Alice zögernd die Hand. »Guten Tag«, sagte sie.
Die beiden Frauen musterten einander abschätzend. Frances fand, Victoria habe recht gehabt; Alice sah in der Tat sehr gut aus. Sie hatte feine, ebenmäßige Gesichtszüge, dunkelgrüne Augen, eine schön gebogene Nase. Die kupferbraunen Haare trug sie streng zurückfrisiert. Sie war klein und zierlich und strahlte eine beinahe fühlbare Energie aus. Es ging etwas ungemein Tatkräftiges von ihr aus. Vielleicht war es das, was Victoria mit »eigenartig« gemeint hatte.
»Weißt du, George«, sagte Alice nun, »vielleicht solltest du erst einmal alleine hineingehen und deine Mutter auf meine Anwesenheit vorbereiten. Ich schaue mich hier draußen noch ein wenig um. Deine Schwester ist vielleicht so nett, mir Gesellschaft zu leisten?«
»Wir könnten in den Garten gehen«,
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