Das Haus Der Schwestern
aber innerhalb der Gruppe blieb ihr keine Wahl.
Eigenartigerweise fiel das Hungern keineswegs der dicken Lucy am schwersten, obwohl sie häufig jammerte, sondern der energischen Pamela. Sie schien mit jeder Stunde bleicher zu werden, mußte sich oft plötzlich hinsetzen, weil ihr schwarz vor den Augen wurde, und zweimal kippte sie ohne jede Vorwarnung um wie ein gefällter Baum. Frances versuchte sie zu überreden, wenigstens etwas Suppe zu essen, da Salz helfen würde, ihren Kreislauf zu stabilisieren, doch Pamela lehnte das rundweg ab und kämpfte weiterhin von früh bis spät gegen ihre Ohnmachten.
» Schön verrückt bist du!« sagte die Aufseherin, die kräftige Person vom ersten Abend. » Schön verrückt seid ihr alle. Ihr werdet schon sehen, wohin das führt! Guter Gott, wie kann man nur so dumm sein! « Sie trug das Tabelett mit den unberührten Speisen davon, und die Inhaftierten sahen ihr mit hungrigen Augen hinterher.
Obwohl Frances manchmal dachte, ihr Magen fühle sich an wie ein schmerzendes Loch, machte ihr die Kälte weit mehr zu schaffen als der Hunger. Sie hatte ohnehin nicht wirklich Appetit, aber ihre Erkältung war schlimmer geworden, sie fieberte ständig, und das ließ sie noch heftiger frieren. Sie zitterte jede einzelne Minute des Tages und der Nacht, und bisweilen fürchtete sie, die Vorstellung von einem heißen Bad werde noch in einem Wahn enden, so intensiv, so verlangend suchte sie sie heim.
Die vier Tage in einer grausamen Ausnahmesituation hatten ausgereicht, um sie ihr Leben, wie es bisher gewesen war, mit anderen Augen und mit einer ihr bis dahin völlig ungewohnten Dankbarkeit betrachten zu lassen. Ein großes, warmes Haus, ein schönes Zimmer, saubere, trockene Kleidung, zu essen und zu trinken, soviel sie wollte; und wenn sie krank gewesen war, hatten ihre Mutter und Großmutter sie umsorgt, Kräutertees für sie gekocht, ihr Gesellschaft geleistet und sich unentwegt nach ihrem Befinden erkundigt. Noch nie zuvor war jemand so rüde und grob mit ihr umgegangen, wie es nun die Aufseherinnen taten, niemand in der Familie, niemand in der verhaßten Schule, und John natürlich schon gar nicht.
Jeder Gedanke an John versetzte ihr einen Stich. Sie hatte gefürchtet, Wichtiges im Leben zu versäumen, wenn sie hinging und ihn heiratete, ohne vorher andere Möglichkeiten zu erkunden, und nun dachte sie, daß es Möglichkeiten gab, die man nicht im geringsten erkunden mußte. Zum erstenmal zeigte ihr das Leben nun ein wahrhaft häßliches Gesicht. Ein Gesicht, das aus Kälte und Hunger bestand, aus einer winzigen Zelle, aus einem harten Bett, aus dem stinkenden Eimer in der Ecke, aus dem qualvoll engen Zusammensein mit vier anderen Frauen, mit denen sie eine gemeinsame Idee verband und sonst nichts; und um vierundzwanzig Stunden am Tag aufeinanderzusitzen, war eine gemeinsame Idee zu wenig.
Und gerade was diese Idee betraf, so quälten Frances nun häufig Zweifel. Nicht, soweit es um den Inhalt ging. Aber sie fragte sich, wie stark und lodernd die Flamme wohl wirklich in ihr brannte. Sie kam sich vor wie ein Mensch, der mit dem Kopf einen Gedanken erfaßt, gewogen und für gut befunden hat. Aber das Herz war nicht ergriffen worden davon, und so konnte es in dieser mißlichen Lage auch nicht helfen. Alles, was ihr widerfuhr, mußte sie allein mit dem Verstand zu bewältigen suchen, ohne daß ihr ein Feuer im Innern darüber hinweggeholfen hätte. Manchmal quälte sie die Frage, ob sie zu echter Leidenschaft fähig war; Leidenschaft für einen Menschen oder für ein Ideal. In Alice hatte sie stets etwas von dieser brennenden Kraft gespürt, in Pamela entdeckte sie sie wieder. Pamela lebte für ihren Kampf. Notfalls würde sie für ihn sterben.
Pamela war die erste, die sie abholten, um ihr gewaltsam Nahrung zuzuführen. Sie sah schrecklich aus, als sie zurückgebracht wurde; sie hatte blutig gebissene, dick angeschwollene Lippen, blaurote Flecken an Handgelenken und Fußknöcheln, wo man sie festgehalten hatte. Die Aufseherinnen keuchten, als sie sie in die Zelle brachten, und sagten, noch nie habe sich jemand so heftig gewehrt. Pamela selbst konnte nichts erzählen. Von dem Gummischlauch, den man ihr in den Magen geführt hatte, schmerzte ihr Hals so sehr, daß sie kein Wort hervorbrachte.
Dann kam Frances an die Reihe.
Die ganze Zeit über hatte sie gehofft, bereits draußen zu sein, ehe das auf sie zukam. Sie war überzeugt, daß ihre Familie längst alle Hebel in Bewegung zu
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