Das Haus Der Schwestern
mitfahren.«
Frances dankte erleichtert. Die Herrschaften fuhren eine feine Limousine und waren festlich gekleidet.
Welch ein Glück, dachte Frances, daß offenbar gerade heute in der Nähe von Leigh’s Dale eine Feierlichkeit stattfindet, sonst hätte ich sicher niemanden gefunden, der dorthin fährt!
Die beiden Fremden sprachen nicht viel. Frances, die auf dem kleinen Notsitz hinter ihnen kauerte, hing ihren eigenen Gedanken nach. Sie sah hinaus: Da waren der durchsichtig blaue Himmel, mit langen Schleierwolken durchzogen, die Täler und kahlen Hochflächen; da war die fast schmerzhafte Einsamkeit; in der dieser Landstrich verharrte, und da waren die schaumigen Wiesen, die sich im Wind kräuselten und silbrig glänzten unter dem Licht der Sonne.
Wie sehr ich all das liebe, dachte Frances beinahe verwundert.
Das Ehepaar entpuppte sich letzten Endes als etwas kleinlich, denn sie ließen Frances am Fuße des Feldweges, der nach Westhill hinaufführte, aussteigen, anstatt ihr anzubieten, sie hinaufzufahren, was sie kaum mehr als drei Minuten gekostet hätte. So mußte Frances mit ihrem Koffer unter der heißen Sonne zu Fuß gehen. Der Weg war nicht wirklich steil, aber er führte doch stetig bergauf, und schon bald war Frances außer Atem. Rechts und links des Weges erstreckten sich Schafkoppeln, so weit das Auge reichte. Die meisten Tiere hatten sich im Schatten der Bäume versammelt, lagen im Gras und hielten die Augen geschlossen. Kaum eines wandte den Kopf, als Frances alle paar Schritte stehenblieb und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Der Koffer, der ihr zuerst so leicht vorgekommen war, wog nun doch erstaunlich schwer, und zudem war sie zu warm gekleidet; es war viel kühler gewesen bei ihrem nächtlichen Aufbruch. Hatte sich dieser Weg schon immer so lange hingezogen?
Aber dann kam das letzte Stück, sie lief schneller und schneller, und dann stand sie auf dem Hof vor dem Haus, ließ den Koffer einfach fallen und rannte auf die Haustür zu. »Mutter! Vater! Ich bin es, Frances! Ich bin wieder da!«
Die Tür war nicht verschlossen, niemand verschloß hier seine Türen. Frances stieß sie auf und trat in den Flur. Dämmrige Kühle empfing sie. Und völlige Stille.
Sie ging durch alle Räume im Erdgeschoß, aber niemand war dort. Nur Molly, die Hündin, lag im Eßzimmer auf ihrer Decke; als sie Schritte hörte, hob sie erwartungsvoll den Kopf, aber dann sah sie, daß es nicht George war, auf den sie Tag und Nacht wartete, sondern nur Frances, und die Hoffnung in ihren Augen erlosch. Sie stand nicht auf, doch sie wedelte mit dem Schwanz, ein wenig enttäuscht, aber höflich. Frances trat zu ihr hin und streichelte sie. »Molly, wo sind sie denn alle?« fragte sie. »Es scheint ja überhaupt niemand daheim zu sein!«
Molly klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und legte den Kopf wieder zwischen die Vorderpfoten. Frances richtete sich auf und ging in den ersten Stock, aber auch hier konnte sie niemanden finden.
»Alle ausgeflogen«, murmelte sie. »Eigenartig. Sogar Großmutter und Adeline sind fort!«
Schließlich raffte sie sich auf, holte ihren Koffer herein, der draußen vor dem Haus in der Sonne stand, und schleppte ihn hinauf in ihr Zimmer.
Hier hatte sich nichts verändert. Noch immer lag die hellblaue Decke mit dem Rosenmuster auf dem Bett, und an den Wänden hingen Drucke der Bilder von Sisley. Auf dem Schreibtisch entdeckte sie alte, getrocknete, kleine Blumensträuße und ihr in grünes Leinen gebundenes Tagebuch, in dem sich so wichtige Eintragungen befanden wie: »Heute gab es Lamm, das liebt Miss Parker ja so, aber mir wurde wie immer schlecht! « oder »Meine Mannschaft hat im Lacrosse gewonnen; wir bekamen jeder eine Schleife hinterher, die wir uns anstecken können, aber ich finde, das sieht zu albern aus!«
Irgendwie, so heimelig und vertraut auch alles war, paßten das Zimmer, die Rosendecke, das Tagebuch nicht mehr recht zu ihr. Diese Dinge gehörten einer anderen Zeit an, und Frances stellte fest, daß Zurückkommen und Wiederfinden zweierlei waren. Sie konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Sie konnte sich unter einer Decke mit Rosen nicht mehr geborgen fühlen.
Sie öffnete das Fenster, sah hinunter in den blühenden Garten. Hätte sie die Arme ausgestreckt, sie hätte fast die Zweige des Kirschbaumes berühren können. Gedankenverloren blickte sie dem kleinen Feldweg nach, der jenseits der steinernen Umfriedung des Gartens begann und irgendwo hinter dem Hügel verschwand. Er
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