Das Haus Der Schwestern
ihnen keinesfalls gönnen.
Ihre Knie waren weich, und in ihren Ohren rauschte es, aber sie ging langsam auf John und Victoria zu, durchquerte den ganzen Saal und konnte förmlich spüren, wie alle den Atem anhielten. Sie trat an Victoria heran, die vor Schreck wie erstarrt war und kaum wußte, wohin sie blicken sollte, neigte sich zu ihr hinab und küßte sie auf die Wange. Victoria roch nach Maiglöckchenparfüm, und ihre Haut schmeckte süß wie die eines Babys.
Frances’ Stimme klang etwas rauh. »Ich wollte doch unbedingt meiner kleinen Schwester zu ihrer Hochzeit gratulieren«, sagte sie. »Ich wünsche dir alles Gute, Victoria.«
»Danke«, murmelte Victoria. Sie konnte Frances noch immer nicht in die Augen schauen.
Bin ich damals auch so plötzlich vom Kind zum jungen Mädchen geworden? fragte sich Frances verwirrt. Dieses Geschöpf war einfach nicht mehr die Victoria, die sie gekannt hatte. Und alles, was früher bereits hübsch an ihr gewesen war, hatte an Intensität gewonnen: Das Haar glänzte goldener, die dunklen Augen leuchteten wärmer. Im Ausschnitt ihres Kleides konnte Frances den Ansatz ihrer kleinen, hohen Brüste sehen. Auf einmal kam sie sich wie eine magere, alte Katze vor. An Liebreiz hatte sie es mit ihrer Schwester nie aufnehmen können, aber jetzt mußte die Diskrepanz zwischen ihnen geradezu schmerzhaft auffallen.
John war aufgestanden. Seine kalten, bleichen Lippen streiften Frances’ Stirn. Ein keuscher, brüderlicher Kuß.
»Frances«, sagte er, und es schien, als müsse er sich sehr anstrengen beim Sprechen. »Was für eine Überraschung!«
»Ja, nicht wahr? Ich bin heute mit dem ersten Zug aus London gekommen.«
Frances hoffte, daß die übrigen Gäste wenigstens nicht mitbekamen, daß die Schwester der Braut keinen blassen Schimmer von der Hochzeit gehabt hatte. Bei diesem Gedanken kroch schon wieder die Wut in ihr hoch.
Sie hätten es mir zumindest sagen müssen, dachte sie zornig.
Charles preßte die Lippen zusammen, als er seiner ältesten Tochter die Hand reichte. Maureen zog sie an sich, wich aber ihrem Blick aus. Kate als einzige sah ihr ins Gesicht; was in ihren Augen stand, vermochte Frances nicht leicht zu enträtseln. Mitleid? Kate brachte niemandem Mitleid entgegen, höchstens Verachtung, und verächtlich blickte sie nicht drein.
Ihr Ausdruck zeigte Verständnis für das, was Frances jetzt durchmachen mußte, und - jetzt erkannte es Frances - Anerkennung für die Tapferkeit und Haltung, mit der sie in diesen Saal marschiert war und ihrer Schwester vor aller Augen und Ohren gratuliert hatte. Kaum merklich lächelte Kate ihrer Enkelin zu, und diese erwiderte das Lächeln.
Johns Mutter, die alte Mrs. Leigh, die Frances nie gemocht hatte, konnte sich eine taktlose Bemerkung nicht verkneifen. Sie war sicher auch mit Victoria als Schwiegertochter nicht einverstanden; aber wenn es das Kind einer irischen Katholikin sein mußte, dann war Victoria zumindest nur die zweitschlimmste Wahl.
»So spielt das Leben«, sagte sie und gab Frances die Hand. »Ich hätte immer gedacht, Sie wären es, die ich eines Tages auf Daleview einziehen sehe. Aber nichts bleibt, wie es ist, nicht?«
»Mutter!« zischte John.
»Was ist? Stimmt es etwa nicht? Ihr wart doch unzertrennlich früher. Nun ja, Ihnen ist ja in London ganz nett der Wind um die Nase geweht, und Sie haben ohnehin andere Prioritäten für Ihr Leben gefunden.«
Frances wandte sich wortlos ab. Sie fragte sich, wie lange sie es durchhalten würde, hier zu stehen.
»Wo setzen wir Sie denn jetzt hin?« überlegte Mrs. Leigh und sah sich um.
Frances legte ihr rasch die Hand auf den Arm. »Keine Umstände, bitte. Ich habe sonst nur ein schlechtes Gewissen, daß ich unangemeldet hier hereingeplatzt bin. Ich wollte ja auch nur dem glücklichen Paar gratulieren.«
»Aber Sie werden doch nicht schon wieder gehen? Als meine Beinahe-Schwiegertochter müssen Sie unbedingt dem Fest die Ehre geben.«
Das ist das einzige, was ich Victoria gönne, dachte sie, diesen Teufel von einem Weib, mit dem sie von nun an leben muß!
Sie fühlte sich außerstande, an der Feier teilzunehmen. Alles, was sie an Disziplin aufbringen konnte, hatte sie verbraucht, um Victoria zu beglückwünschen und diesen schrecklichen, distanzierten Kuß von John zu ertragen. Nun sehnte sie sich danach, allein zu sein, niemanden mehr sehen zu müssen, am liebsten für den Rest ihres Lebens.
»Ich bin sehr müde«, sagte sie, »ich bin schon die halbe Nacht
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