Das Haus Der Schwestern
völligen Mangel an Emotion.
Vielleicht fehlt etwas bei mir, dachte sie, irgend etwas, was andere Menschen haben.
Am Ende — und das war ein erschreckender Gedanke — würde sie aber nie dahinterkommen, was ihr fehlte; denn wie sollte sie letztlich etwas, das sie nicht empfand, in ihrer Vorstellung definieren?
Und dann, in einer hellen, warmen Juninacht, in der sie schlaflos in ihrem Bett lag, wußte sie plötzlich, was sie tun wollte, was ihre Probleme lösen und ihr ihren Frieden zurückgeben würde: Sie würde nach Hause zurückkehren. Heim nach Leigh’s Dale, nach Westhill, zu ihrer Familie. Zu allem, was ihr lieb und vertraut war.
Sie setzte sich im Bett auf, und ihr Herz hämmerte. Die Sehnsucht nach den Hügeln und Tälern, den klaren Bächen und dem hohen Himmel von Wensleydale überwältigte sie beinahe. Fort von London mit seinen überfüllten Straßen, dem Lärm der Kutschen und Automobile, dem fauligen Gestank am Themseufer und dem düsteren Himmel über den Fabrikschornsteinen im Osten der Stadt. Fort von Phillip mit all seinen Erwartungen und flehenden Blicken. Fort von dem Schuldbewußtsein, mit dem sie an die Frauenbewegung dachte, weil sie sich bei den Versammlungen kaum mehr blicken ließ, nicht wissend, woher sie die Kraft dazu nehmen sollte.
Nach Hause. Zu Charles. Zu Maureen. Zu Kate.
»Ich hätte es längst tun sollen«, sagte sie laut, »längst!«
Natürlich, ihr Vater war damals sehr böse auf sie gewesen. Er hatte gesagt, er werde ihr nie verzeihen. Aber die meisten Menschen sagten Dinge im ersten Ärger, die sie in Wahrheit nicht so meinten.
Frances verdrängte die Erinnerung an den Moment, da sie deutlich gefühlt hatte, daß es ihrem Vater sehr ernst gewesen war, daß er keineswegs in impulsivem Unmut seine Entscheidung getroffen und verkündet hatte. Sie vergaß es einfach, weil sie es vergessen wollte. Ein gesunder, jugendlicher Optimismus erwachte statt dessen in ihr: Er hatte sie geliebt. Er würde sie wieder lieben. Und John würde sie genauso zurückerobern. Wie ihr Vater, liebte er sie seit Kindertagen. Das Intermezzo im Gefängnis war für ihn sicher längst vergessen.
So saß sie und schmiedete Pläne, und erst gegen Morgen fand sie noch für zwei Stunden Schlaf.
Sie war nie im Leben feige gewesen, bis zu diesem Tag nicht, und auch später würde sie es nie wieder sein. Aber in dieser Situation fand sie nicht den Mut, mit Phillip zu sprechen. Sie setzte sich hin und schrieb ihm einen Brief; mit der fünften Fassung gab sie sich endlich zufrieden, auch wenn es sie noch immer schauderte bei dem Gedanken an seine Gefühle, sobald er dies las.
Am Abend des nächsten Tages packte sie heimlich einen Koffer; sie konnte nur das Notwendigste mitnehmen, den Rest mußte Margaret ihr irgendwann nachsenden. Sie schrieb ihrer Tante ebenfalls einen Brief, in dem sie sich für alle Hilfe bedankte und um Verzeihung bat wegen ihres nächtlichen Aufbruchs. Da Phillip Margaret ohnehin in seine Heiratspläne eingeweiht hatte, konnte Frances offen erklären, dieser Verstrickung entkommen und Phillip die Gelegenheit geben zu wollen, sein Leben ohne sie neu zu ordnen.
Ahnungsvoll dachte sie jedoch: Ich werde eine ganze Menge zerschlagenes Porzellan hinter mir zurücklassen.
Sie ging früh zu Bett, fand aber keinen Schlaf, sondern starrte nur in die Dunkelheit und lauschte auf ihren eigenen Herzschlag. Um vier Uhr am Morgen stand sie auf, zog sich an, nahm ihren Koffer und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. So leise sie sich bewegte, es war dennoch nicht lautlos genug, und wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Mr. Wilson vor ihr, sehr eigentümlich anzusehen in seinem grauen Schlafrock, mit den dicken, handgestrickten Socken an den Füßen. Er hielt eine Kerze in der Hand und leuchtete Frances damit ins Gesicht.
»Miss Gray!« sagte er erstaunt. »Was tun Sie um diese Zeit hier unten?«
Dann bemerkte er, daß sie einen Mantel trug, und er sah auch den Koffer.
»Um Himmels willen...«
Frances widerstand dem Bedürfnis, ihm den Mund zuzuhalten. »Mr. Wilson, nun seien Sie doch nicht so laut!« zischte sie. »Wollen Sie das ganze Haus aufwecken?«
»Wo wollen Sie denn hin?« flüsterte Mr. Wilson.
»Ich fahre nach Hause. Nach Yorkshire. Ich habe Lady Gray und Mr. Middleton hier alles erklärt! « Sie drückte dem perplexen Butler die beiden Briefe in die Hand. Sie hatte sie eigentlich im Eßzimmer auf den Tisch legen wollen, aber nun konnte sie ebensogut Wilson mit
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